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von Fall zu Fall Fragen

Wie uns Sprache widerfährt

Yanara Friedland liest aus ihrem Buch „Uncountry. Eine Mythologie“ und führt ein Gespräch mit Petra Nagenkögel.

Yanara Friedland führt ein Gespräch mit Petra Nagenkögel, außerdem hören Sie eine Lesung der Autorin aus ihrem Buch in englischer und deutscher Sprache. Ein Gespräch der Autorin mit ihrer Übersetzerin Maria Meinel finden Sie am Ende des Beitrags.

© Verlag Matthes & Seitz
Es gibt einen Kontinent Afrika und ein Meer, ein Rotes. Es gibt Väter, es gibt Mütter. Es werden Kinder geboren, die nichts wissen von den Schüssen, dem Verlassensein (…) ‚Euer Ding‘, brummeln sie. Die Vorzeit sitzt in ihren Lungen fest, und manchmal husten sie sie aus, stoßweise, in den Wintern.

Petra Nagenkögel: Ich würde unser Gespräch gerne mit diesem Zitat aus Uncountry beginnen: Die Vorzeit, die in unseren Lungen festsitzt, scheint mir eines der zentralen Themen des Buchs zu sein. Es geht darum, Zugang zu dieser Vorzeit zu finden? Eine Art der Anbindung an das, was uns vorausgegangen ist? Beziehungsweise an die, die uns vorausgegangen sind?

Yanara Friedland: Das Buch ist meinen Ahnen gewidmet und setzt sich sowohl mit einer Vergangenheit auseinander, die nicht mehr greifbar ist und die gleichzeitig auf einem Kontinuum existiert und weiterbesteht. Das Vergangene ist also nie wirklich vergangen, sondern verfolgt, repliziert, spukt und wirkt weiter im Jetzt. Für mich ist das ein wichtiger Ansatz in der Konfrontation mit Erinnerungskultur, Familiengeschichte und offizieller Geschichtsüberlieferung, denn in dem Moment, wo wir etwas als abgeschlossen einordnen, verriegeln wir die Tür zu einer Lebendigkeit dieser Realität. „Uncountry“ ist ein Versuch, Zugang zu einer Vorzeit zu entwickeln, ihr entgegenzuschreiben, und diese gleichzeitig mit der Gegenwart zu verweben und sie dadurch immer wieder neu zu beleben. Die Anbindung an das, was uns vorausgegangen ist, besteht, es sitzt einem in den Lungen fest, das Buch ist aber auch daran interessiert, weitere Bezugspunkte und vor allem tote Winkel und Stillgeschwiegenes in dieser Vergangenheit in neue Beziehungen zu setzen und dadurch zu vertiefen. In Folge dessen entstehen multiple Versionen von Herkunft und die Vorzeit, die wir in uns tragen, entpuppt sich als weiträumiger als die persönliche Geschichte unserer Vorfahren.  

Petra Nagenkögel: Diese Vorstellung von Geschichte und Herkunft rüttelt gehörig an unseren Denkgewohnheiten … Wir lesen in Uncountry also keine „klassische“ Re-Konstruktion von (Familien)Geschichte, keinen Versuch des Nachvollzugs vergangenen Lebens, sondern vielmehr die Sichtbarmachung und Vergegenwärtigung einzelner, fragmentierter Momente, denen ein größerer Zusammenhang immer schon eingeschrieben ist. Welche dieser Momente standen für dich am Anfang des Schreibens, womit hast du begonnen?

Yanara Friedland: Die zwei Urgeschichten des Buches sind die Erzählungen der ersten beiden Teile, „Geschichte der Asche” und „Geschichte des Atems”. Beide begannen, während ich Recherchereisen nach Odessa und in den Harz unternahm. Schauplätze, die sowohl die Vergangenheit meiner Urgroßmutter (Odessa) und die Flucht in die USA in Folge von Pogromen nachverfolgt und die meines Großvaters, der zu Kriegsende desertierte und durch den Harz flüchtete. Es begann mit Familienlegenden über diese sehr charismatischen und doch geheimnisvollen Vorfahren. Ich empfand jedoch sehr schnell das Bedürfnis, ihre Geschichte nicht biografisch aufzuarbeiten, sondern die Fakten mit dem Mythos und den Geographien ihrer Vergangenheit nebeneinanderzustellen. Ich habe mich dabei vom jüdischen Midrasch inspirieren lassen. Der Midrasch ist ein vielseitiger Kommentar, der sich mit dem Originaltext der Torah auseinandersetzt und dabei die Lücken und auch die unsichtbaren Aspekte des Originals versucht herauszulösen.  Dabei werden verschiedenste Textgattungen gebraucht, und so zum Beispiel Träume, Symboliken und Legenden gleichgestellt. Mich fasziniert dieses Anfüllen von Perspektiven. Der Midrasch offenbart ein radikales Verständnis von Wahrheit, eines, das multidisziplinär und oft gegensätzlich ist und dennoch zusammen im Seitenrand co-existieren kann. Die beiden Geschichten entstanden also sowohl durch die reelle Spurensuche, die vielschichtigen Familienerzählungen und meine eigenen Bilder. 

Petra Nagenkögel: „Man muss wissen, dass diese Geschichte in Bildern zu mir kam, nicht in Worten. Ich übersetze also“, heißt es an einer Stelle im Buch. Das Imaginäre ist Medium des Erkennens und zugleich auch der Darstellung – Es ist gleichsam eine Übersetzungsarbeit, die die Erzählerin leistet, ein Über-Setzen vom visuellen ins sprachliche Bild. Wie lässt sich dieser Prozess fassen? Bild und Sprache können ja nie deckungsgleich werden – welche Verschiebungen finden da statt? 

Yanara Friedland: Ich schreibe im Dunkeln. Fast nie beginnt ein Buch für mich mit einem konkreten Plan. Es beginnt mit Bildern und mit spontaner Sprache im Ohr.  Phrasen, Fragmente und Träume, die ich irgendwo notiere und die ich nicht immer verstehe. Es ist schwierig für mich, diesen Prozess zu beschreiben. Tatsächlich ist es eine Art Übersetzen einer inneren Wahrnehmung, ohne sie sozialfähig zu machen. Die Frage, wie Sprache uns widerfährt und wie wir sprechen würden in einem Raum, der sich einer Domestizierung von Sprache widersetzt, ist ein Grundanliegen des Buches. Uncountry verweist ja auf eine Art von Unland, einen Ort, den es nicht gibt, aber den man trotzdem heraufbeschwören kann, indem man die nomadischen Bilder, die unbewussten Imagination der Welt über sich rollen lässt und der etwas rätselhaften Formel vertraut.

Petra Nagenkögel: Eine solche Befragung von Welt, die nicht schon überformt ist von Bedeutung, die sich unseren herkömmlichen Deutungsmustern entzieht, scheint mir auch auf anderen Ebenen in Uncountry umgesetzt. Vor allem Zeit und Raum (als zentrale Ordnungskategorien unseres Denkens) werden unterlaufen. Das (scheinbare) Kontinuum von Zeit wird aufgelöst zugunsten eines Ineinanders von Vergangenem und Gegenwart, damit wird auch der Raum von einem geografisch oder national bestimmten zu einem offenen Raum, in dem potentiell alles gleichzeitig anwesend ist. Dieses „Unland“, dieser „Ort, den es nicht gibt“, wie du sagst, hat aber nichts Utopisches, im Gegenteil scheint er ein Ort zu sein, der menschheitsgeschichtliches Gedächtnis aufbewahrt. Ein Gedächtnis, dessen Konstanten, dessen Grundmuster sich abzeichnen: Vertreibung und Flucht, Krieg und Exil, Aufbrüche, Abbrüche. Die menschliche Unbehaustheit.

Yanara Friedland: Das ist schön zusammengefasst. Für mich ist Uncountry auch ein Prozess des Entgrenzens, sowohl im Zusammenhang mit Genre (fiktives, poetisches und autobiographisches liegen dicht beieinander), aber auch die Kontaktzonen, die zwischen den einzelnen Geschichten entstehen, sind oft fließend. Die Bewegung von dem Märchen „Hänsel und Gretel“ zu Ulrike Meinhofs Leben innerhalb weniger Seiten, oder zwischen der hebräischen Figur Lilith und der Flucht Mimmys aus der Ukraine in die USA sind gewaltige Zeitsprünge und doch thematisch eng verwandt. Es ist wohl eine Art historische Wiederholung, die man da nachvollziehen kann, aber auch ein Gedächtnis, das außerhalb von linearer Zeit existiert. In diesen Kontaktzonen können sich widersprüchliche Geschichten, die nicht im konventionellen Sinne zusammengehören, austauschen. Die Themen des Buches haben sich aus den „Urgeschichten“ des Alten Testaments ergeben. Ich habe diese schon als Kind geliebt in ihrer oft spärlichen Ausführung, die meine Phantasie belebt haben. Man erfährt zum Beispiel nicht, wie das Trauma der gescheiterten Opfergabe von Abrahams Sohn Isaak sich im Innenleben dieser Figuren abgezeichnet hat. Die Konkurrenz zwischen Sarah und ihrer Magd Hagar wird zwar angedeutet, aber nicht konkret beleuchtet. In diese Abwesenheiten habe ich hineingeschrieben und die relativ universellen Themen, wie „Verrat“ oder „Exil“ herausgeleitet und wieder mit neuen Interpretationen angefüllt.


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