Im Herbst 2023 ist Nasima Sophia Razizadehs Debüt Sprache und Meer erschienen, außerdem war sie als H.C. Artmann-Stipendiatin in Salzburg zu Gast. In ihren wortspielenden und bilderreichen Texten entfalten sich vor der Leser:in Reflexionen über Sprache, Sprechen und Schreiben sowie Szenen und Narrative über die sinnliche Wahrnehmung, über eine sanft-wilde Monstrosität der Phantasie, über Hingabe, Bewegung und Berührung. Nasima Sophia Razizadeh im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Corinna Sauter.
Corinna Sauter: Frau Razizadeh, man liest Sprache und Meer, ist verblüfft von diesem Debüt und beglückt bei der Lektüre einer Prosa von solch großer sprachlicher Prägnanz und Präzision. Wie kamen Sie zum Schreiben?
Nasima Sophia Razizadeh: Die Hinwendung zur Sprache hat, denke ich, schon sehr früh stattgefunden. Bloß dass es zuerst vielleicht gar nicht so sehr eine Hinwendung war, sondern ein Fall, hinunter, hinein in die Sprache – wenn auch bestimmt kein Zufall. Ich kann mir mich als Mädchen in der Tat ein wenig wie Alice in Lewis Carrolls Alice in Wonderland vorstellen, auf einem Streifzug durch die kindheitstypisch unübersichtlichen Tage, kann mir vorstellen, mich, von einer Ungeduld mit dem Alltag und Neugierde angestiftet, ohne zu zögern, über diese Öffnung im Boden gebeugt und geradewegs hinabstürzen gelassen zu haben. Das Zur-Sprache-Kommen war und ist aber vielleicht doch nicht nur Ausdruck von Übermut. Es ist wohl auch einer Not geschuldet. Einer sich aus einem nicht ohne weiteres benennbaren Mangel ergebenden Notwendigkeit, anderswo etwas Anderes zu finden. Eine Flucht und eine Suche nach Klang, Spiel, Form, Steigerung, Konservierung, Kontrolle, und, gleichsam, grenzloser Freiheit. Und, vermittelt durch dieses Andere, die Erzähllust, den Erzählzwang, den Erzählwahn, die eigene Stimme und das zunächst notwendigerweise vereinzelnde Schreiben: das Finden des Anderen, eines Anderen, eines Gegenübers, eines Empfängers, mal personifiziert, mal idealisiert, und vielleicht einer Antwort, letztlich. Aber Zur-Sprache-Kommen heißt eben auch, immer bereit zu sein, aufs Neue, wie man sagt, stiften zu gehen. Hervorzuheben wären demnach noch die letzten zehn und dann wiederum die letzten zwei Jahre. Seit etwa zehn Jahren schreibe ich Texte, die für mich noch heute relevant sind – wobei sich zunächst der Großteil, gemessen an Seitenzahlen, in Notizheften, teils auch Briefen, findet, oder sich darin vielmehr verliert, und ich dieses Geschriebene nicht als Texte im engeren Sinne bezeichnen würde. Irgendwo zwischen diesem steten Schreiben und den Orten, Begegnungen und Bildern um mich und in mir entsteht schließlich zudem die Dichtung. In den letzten zwei Jahren, seitdem also die Texte zunehmend auch gewissermaßen oberirdisch wahrnehmbar werden, hat sich das stark intensiviert. Kurz: Der Umgang mit der Sprache war und ist beinah immer präsent. Die Dichtung hat dennoch immer noch keine Tür. Sie bleibt eine Öffnung im Boden, an der ich immer aufs Neue plötzlich, vorüber- und ankomme, und dann nicht zögere.
Sie erwähnten die Bedeutsamkeit der Orte und der Bilder um Sie für Ihr Schreiben. Beim mehrsinnigen Titel Sprache und Meer liegt es nahe, nach dem Meer als Ort, Bild und Sprachmetapher zu fragen.
Ich möchte auf diese Frage, das Wort Meer nachahmend, und auch die Stille, die das Meer mir, wenn ich dort bin – selbst dann, wenn ich dort spreche, höre, denke, schreibe – schenkt, so einsilbig, so kurz wie möglich antworten. Das Meer ist mir, und das verdanke ich nicht nur dem Meer, zu einem Bild für Alles geworden.
Sie sind nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Biologin. Ihre wissenschaftliche Tätigkeit und das Unterrichten bezeichnen Sie als einen Schirm fürs Schreiben. Abgesehen davon: Zwar ist die Biologie in Sprache und Meer nicht überrepräsentiert, immerhin aber begegnet z. B. eine Miniatur zur „Obszönität einer Luftwurzel“, also einer Pflanzenwurzel, die partiell über (anstatt in) der Erde ausgebildet wird, und mit der es das Ich des Textes ‚Aug in Aug‘ aufnimmt. In welchem Verhältnis stehen Biologie und Poesie für Sie? Gibt es Parallelen hinsichtlich der Methode und der Faszination?
In der Tat steht die Biologie der Literatur zunächst für mich diametral gegenüber. Ich entpuppe mich vermutlich schon durch die Bezeichnung der Biologie, ihres Studiums und der Arbeit in diesem Gebiet als Schirm, des Schreibens, um im Bild zu bleiben, hingegen als Natur bzw. ohne Hilfsmittel unentrinnbarem Regenwasser, als keine wirkliche Biologin. Aber als analog zu betrachten sind sicherlich bestimmte Elemente: das schier uneinholbare Objekt und die dennoch, teils durch Technik herbeigeführte, teils unmittelbare große Nähe dazu, die Vereinbarkeit von Präzision und Differenziertheit einfordernder Komplexität einerseits und ungestümer Begeisterung für das Schöne andererseits, oder das Spiel mit den verschiedenen Ebenen, die ein Ganzes ergeben, die allesamt aufeinander beziehbar sind und sein müssen, die aber je eigenen Gesetzen zu folgen scheinen. Beide Disziplinen besitzen diese Reize. Und doch: Die Biologie bleibt eine Disziplin. Die Dichtung dagegen ist die Dichtung. Die letzten Jahre, seit Abschluss des wissenschaftlich ausgerichteten Studiums, habe ich häufig, neben kleineren Forschungsprojekten, Biologie an Schulen unterrichtet, zunächst nur in der Oberstufe (Sekundarstufe II), im letzten Jahr auch in Klassen mit jüngeren Schülerinnen und Schülern. Das war ursprünglich nicht geplant, ist aber eine schöne Möglichkeit, dem eigenen Fach auf eine ganz andere, ständig neue Weise zu begegnen. Hier, in der Lehre, wird ganz unmittelbar deutlich, dass der Weg in die Biologie auch ein sprachlicher ist, und das wiederum bei der Beschäftigung mit der Biologie aus einem wundervollen Vokabular geschöpft und von Modellen und Mustern der Betrachtung auf jeweils ganz persönliche Weise profitiert werden kann.
In Ihrem Buch ist einerseits von einem Drang zum Schreiben die Rede, andererseits von einem „Überstrukturierten“. In welchem Verhältnis stehen der Schreibdrang und der Wille zur Struktur?
Das ist ein seltsames Flirren. Der dunkle Drang und der helle Wille. Um doch nochmal auf die Biologie zurückzugreifen: Leben wäre – ganz unzulänglich natürlich – definierbar als ein stetes Entgegenwirken gegen die Tendenz der Materie zur Unordnung. Leben ist eine ständige Aufwendung von Energie zur bloßen Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung. Und gleichzeitig sind doch Lebewesen Bündel aus unüberblickbaren Trieben, Drängen, Bedürfnissen, Verwicklungen. Man kann, wenn man ein Wesen betrachtet, trotz seiner lebensnotwendigen Ordnungsliebe, eigentlich bloß den Kopf schräg legen und erstaunt sein, dass es so etwas gibt, geben kann. Ich löse den Widerspruch – wiederum ganz unzulänglich natürlich – vielleicht, indem ich im Schreiben Fabelwesen zu finden versuche, die mir einerseits ganz Untertan sind und die andererseits eine, meinem mich in die Sprache treibenden Drang entsprechende eigene lockende Wildheit an sich haben.
Das Thema Berührung – Berühren und Berührtsein bzw. -werden – zieht sich als ein roter Faden durch Sprache und Meer. Eine Art Poetik der Berührung wird entfaltet. Ist die poetische Sprache für Sie das Medium des Ertastens der Welt, der eigenen Innenwelt, aber auch des Anderen?
Ja, das willkürliche und willentliche Spüren und Sich-Spürbar-Machen sind sicherlich wichtig. Ich spreche in Sprache und Meer häufig von Körpern, dem eigenen Körper, aber auch dem Körper des Anderen, den anderen Körpern, dem Textkörper, dem Sprachkörper, dem Wasserkörper. Das Schreiben hat mit der Berührung, anders als mit dem Gefühl oder dem Denken etwa, ohnehin zwingend die Hand gemeinsam. Über das Manuelle hinaus aber verbindet Berührung und Sprache ganz einfach die Sinnlichkeit – und die sprachliche Sinnlichkeit ist von vorherein auch, wenngleich keine Berührung, eine unsichtbare Brücke zum Leser. Erst vor kurzem habe ich ein Kapitel in dem ersten Band der Kafka-Biographie von Rainer Stach wiederentdeckt, in dem die Bedeutung des Schwimmens für Kafka beschrieben wird. Diese umfassendste Berührung durch das Wasser wird als Inbegriff der Sinnlichkeit beschrieben. Und obgleich ich in Sprache und Meer begrenzt und darauf beschränkt bin, zu sprechen, wird es doch, hoffe ich, auch durchwirkt von dem Wunsch, zu „meeren“.