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auf alle Fälle Texte

Zu Friederike Mayröckers letztem Buch

Einführung von Bodo Hell zur Lesung aus „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ von Friederike Mayröcker (1924 – 2021)

© Bodo Hell

liebe Friederike Mayröcker, Dein neues Buch trägt den Titel:
da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete
und was bei diesem Titel sofort auffällt: er ist mit kleinem Beginn geschrieben (da) und mit Punkt nach moosgrün. und mit großem Ans Fenster trete weiter,
nun bist Du für ungewöhnliche Texttitel und überraschende Buchtitel bekannt (bereits aus der Frühzeit noch vor den Suhrkamp-Veröffentlichungen gab es etwa Titel wie: Wäsche, selig gemacht, Augen wie Schaljapin, bevor er starb, als der Bauknecht erstmals ins Haus kam, je ein umwölkter Gipfel), und auch Deine Zeichensetzung und Orthographie könnte man (naja) sehr eigenwillig nennen (das schreibmaschinenbedingte SZ Deiner Hermes Baby fürs scharfe S ist dabei noch das geringst irritierende), doch das neue Buch schlägt in seiner textgestalterischen Hinsicht weit über die gewohnten Stränge, auch was die eingefügten Kritzeleien und Minizeichnungen (Schuhe, Vögel etc.) angeht, man könnte sagen: eine wahre Freude für die aufgeschlossene Leser/innenschaft, daß Du Dir das nämlich jetzt erlauben darfst (beim Zuhören in der anschließenden Lesung Deinerseits kommen solche Feinheiten und Freiheiten der ZeichenSetzungen natürlich weniger zur Geltung), doch diese Deine Störung des gewohnten Leselaufs ist eben nicht nur eigensinnig (quasi ein modischer spleen), sondern sie hat Methode: was Du da leichthin anwendest, widerläuft nämlich dem eigenen SchnellLesen, dem Querlesen und Überspringen, es konterkarriert also die süffige Narration eines in Anführungszeichen ‚gut’ geschriebenen Buches, solche Praxis versucht vielleicht sogar eine graphische Entsprechung zur Sprunghaftigkeit unseres sprachlichen und gedanklichen Assoziationsapparats darzustellen, mit seinen überraschenden Einfällen und Querschüssen
da ich morgens und moosgrün (Punkt) Ans Fenster trete
wer das neue Buch als ein weiteres Beispiel für Dein erklärtes Bemühen, Avantgardismus und Klassizismus zu verbinden, durchblättert, sieht zuerst Teile im vollen Satzspiegel stehen, dann eingerückte Textabschnitte und weiters freistehende kursive Halbsätze (wie notwenige Ausrufe), vor allem sieht man aber Datierungen an den Kapitelschlüssen, diese allerdings auch oft mit textlicher Unterfütterung als Nachtrag (wie verbale Datumsumspielungen), also: ein Tagebuch oder ein: ‚alle-3-Tagebuch’ ist das nicht (und eine penible Diaristik hast Du ja meines Wissens für Dich stets als zu selbstgefällig abgelehnt, ohne dabei die berühmten japanischen Beispiele einer exakten Tagebuchführung gering zu schätzen), also: Irritationen der LeseErwartung im Buch wo man hinschaut, das könnte es vielleicht sein: eine Literatur jenseits der Gattungen, wie sie sonst kaum jemand verfaßt (eine Autorin aus den veröffentlichten Besten-Listen schon gar nicht), was nicht heißt, daß Dir nicht eine zahlreiche treue Anhängerschaft über die Jahre zugewachsen wäre, auch eine weibliche Gefolgschaft ohne dezidiert feministische Kategorisierungen (etwa im Sinne eines ‚weiblichen Schreibens‘ von Hélène Cixous)

wenn Du erlaubst, liebe Friederike Mayröcker, gehen wir jetzt kurz zurück und werfen einen Blick auf die 70 Jahre Deiner bisherigen literarischen Produktion, mit besonderem Focus auf die Prosa, da Du ja gewöhnlich im oberflächlichen Sinn eines ‚Paradiesvogels der Avantgarde‘ (oh weh! welche Zuschreibung) auf die Lyrik reduziert wirst, wenn auch nicht aufs Poem oder gar aufs Proem, wie Du es wohlweislich nennst

also die beachtliche Prosa-Titel-Reihe Deiner meist umfangreichen Textwerke seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts geht so:
Das Licht in der Landschaft 1975 (nicht jenes am Ende des Tunnels)
die Heiligenanstalt 1978 (mindestens 4 Musiker-Biographien der anderen Art, von Chopin über das Schumann-Dreieck und Schubert zu Bruckner, Beethovens Heiligenstadt klingt im Titel nur mit: Heiligenanstalt)
die Abschiede 1980 (jedermanns und jederfrau Dauerthema)
Reise durch die Nacht 1984 (das Einstiegswerk in Deine Literatur par excellence, ins Engl. übertragen von Beth Björklund: Night Train)
Das Herzzerreiszende der Dinge 1985 (ein Titel wie von Levi-Strauss)
mein Herz mein Zimmer mein Name 1988 (siehe auch den 1. Film von Carmen Tartarotti über Dich dazu: ein Häufchen Blume/ein Häufchen Schuh)
Stilleben 1991 (im Doppelsinn), auf Deinen Bezug zur bildenden Kunst kommen wir noch zurück)
Lection 1994 (wohl auch in der Bedeutung von: Lesung)
brütt oder die seufzenden Gärten 1998 (Dein ausgewiesenes und dennoch clandestines Hauptwerk)
und im 21. Jhdt bislang 9 Prosabücher, nämlich:
und ich schüttelte einen Liebling 2005 (eine andere Art Ernst-Jandl-Requiem)
Paloma 2008 (das sind 99 Jahresbriefe an einen Freund)
ich bin in der Anstalt 2010 Fusznoten zu einem nicht geschriebenen Werk (allerdings 243 solcher Fußnoten)
ich sitze nur grausam da 2012 (ein schönes Paradox)
dann das französische Trio:
études 2013
cahiers 2014
fleures 2016 sowie
Pathos und Schwalbe 2018 und jetzt:
da ich morgens und moosgrün.(Punkt) Ans Fenster trete 2020

© Suhrkamp Verlag

in dieser Deiner atemberaubenden Titelliste, liebe Friederike Mayröcker, stehen die großen Prosawerke bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen (mein Herz mein Zimmer mein Name von 1988 z.B. ist etwa ein 330-Seiten-Werk ohne jeden Absatz und mit nur einem Schlußpunkt), stehen also diese Textmassen in innerem Zusammenhang, nämlich als biographisch-biographieloses Großkonvolut eines halluzinativen Textbands unterschiedlicher Dichte und Rhythmisierung, mit gezielten Repetitionen (diese variiert) und der Musik entliehenen Parametern, immer wieder selbstreflexiv und selbstreferenziell auf die Machart und auf die Bedingungen des Gemachtwerdens verweisend, ja sogar die Vorgänge während der Lektüre des Textes selbst (durch Zweite und Dritte) werden innerhalb desselben Textes wachgerufen, liebe Friederike Mayröcker: Du schaust Dir sozusagen beim Verfassen selbst und bei der Nacharbeit am Gegebenen zu, konkreter: Du erzeugst diese beiden Vorgänge (verfassen und lesen) im Augenblick des Kontaktes mit dem Text, vielleicht entspricht das auch Deiner Vorstellung von Dir als permeabler Wand, durch welche die Sprache als kollektives veränderliches System hindurchspricht, vorausgesetzt, der hl. Geist der VerbalInspiration weht genau auf diese durchlässige Wand Friederike Mayröcker zu
(man verrät kein Geheimnis, wenn man darauf hinweist, daß dieses Wehen des hl. Geistes bei Dir morgens meist am Übergang vom Traum ins Wachen vor sich geht, d.h. an so vielen Morgen Deines Schreiblebens vor sich gegangen ist)

doch zurück auf festen Boden: mindestens 3 wiederkehrende Themenkreise durchziehen auch Dein neuestes Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete, erstens die Musik, dann die Kindheit und die Kindheitsorte wie D. (Deinzendorf in NÖ) sowie drittens die bildende Kunst: die Werke befreundeter und nicht befreundeter Maler und Malerinnen (große und kleinere Namen) scheinen emblematische Triggerpunkte zu bilden, welche in Dir für Deine Textgestalten Vorstellungen der vielfältigsten Art wachrufen, besonders scheint es Dir neben Man Ray und Marcel Duchamps die spanische Kunst angetan zu haben, und hier so unterschiedliche Gestalten wie Goya (ein Anagramm von Yoga) und Botero (und bei ihm speziell wieder diese süßen Mündchen seiner formenreichen Figuren) im Gegensatz zu den strengen Assemblagen des Katalanen Antoni Tàpies, aktuell: daß Du dem neuen Eisernen Vorhang in der Wiener Staatsoper (jetzt schon wieder dem vorletzten), nämlich dem dort plazierten vergrößerten Gemälde eines trojanischen Pferdes (skelettiert) durch die Dir befreundete Künstlerin Martha Jungwirth ein in die Tiefe der Geschichte und der eigenen Körperlichkeit dringendes Kapitel gewidmet hast, solches rührt besonders an, wir werden dieses trojanische Pferd allerdings in der anschließenden Lesung nicht wiehern hören, aber selbst über sein Zaumzeug etc. nachlesen können

ein wiederkehrendes Thema in Deinen Büchern, liebe Friederike Mayröcker, sind neben den vielen Lesefrüchten und Selbstzitaten die exquisiten Namensnennungen (auch außerhalb dezidierter Widmungen), viele Genannten werden sich auch im neuen Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete zitiert wiederfinden, aber wie schon früher darf man da nicht unbedingt mit authentisch Wiedergegebenem rechnen, vielmehr scheint es sich um eine modifizierte ErinnerungsEmblematik in Andeutungen zu handeln, die zum Zwecke des kenntlichen Aufrufs namenbesetzt ist, hier ein kleiner Ausschnitt aus der Liste der neuerdings en passant genannten oder angetupften Lebenden und Verewigten:

Edith S., Alfred K., Alexander Wied, Christine Busta, Gottfried Haider, Bastian, Gerhard Rühm (der unermüdliche Neuerer in vielen Bereichen), ein Doktor namens B. (Nikolkaus Brinskele hat schon Deine Mutter behandelt), Kurt Ryslavy (mit seinen umgestülpten Stühlen), Arnulf Rainer, Leo Navratil, Helmut Federle, Frau Dr. Freude, Durs Grünbein, Siegfried Höllrigl, Ingrid Wald, Andreas O. (also der feine viel zu wenig gelesene Meister des Fluidums Andreas Okopenko), Erika T., Heinz Schafroth (mit seinem Anheben der Arme bei Feuersglut), Rachel Salamander. Andreas Grunert, Erwin Bohatsch, Marcel Beyer, Hans Hollein, Anneke Brassinga, Aslan Gültekin (der ehedem nachbarliche ÄnderungsSchneider, aus seinem Proem bereits bekannt), Afamia Al-Dayaa (als Pianistin und als Autorin) da heißt sie Yara Lee: Als ob man sich auf hoher See befände), Jens Stupin (der stupende Neonatologe aus Berlin), BH, Ely, Franz Schuh, Konrad Bayer, Aurélie le Née, Linde W. (S. 76) später ausgeschrieben als Linde Waber, eine mit Dir seit langem befreundete Künstlerin (Malerin, Zeichnerin, Holzschneiderin)

daß ich mir (Bodo Hell) die Freiheit nehmen darf, Dich anzukündigen und einzuführen (zu moderieren wäre zuviel gesagt), verdanke ich wohl auch der Tatsache, daß wir beide seit den späten 70er-Jahren wieder und immer wieder in Verbindung sind und daß es auch einige Kooperationen auf dem Hörspiel- und Audio-Sektor gibt, zuletzt meine versuchten Paraphrasen zu Deinem paradiesischen KurzText Landschaft mit Verstoßung samt O-Tönen aus der biblischen Almlandschaft des Dachsteins, aufgenommen von Martin Leitner, als CD (Klangbuch) bei mandelbaum erschienen

daß Du, liebe Friederike Mayröcker, mit Deiner Lebensspanne bis heute auch ein technisches Universum umspannst, geht schon allein daraus hervor, daß in Deinem Geburtsjahr 1924, ja sogar in Deinem Geburtsmonat Dezember die erste Ausstrahlung einer Sendung des späteren Radiosenders Rot-Weiß-Rot (heute ORF) im damals kleingewordenen Österreich erfolgt ist und daß Du diesem Medium on air auch gemeinsam mit Ernst Jandl viele preisgekrönte Originalbeiträge geliefert hast

darf ich Dich jetzt bitten, die von Dir ausgewählten Lesestrecken aus dem neuesten Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete für die Ohren und Augen einer interessierten Welt on-line vorzutragen

aber wo ist das Publikum und wer sitzt im Auditorium, wirst Du fragen, und ich kann Dir nur antworten: Deine Zuhörer- und -seherschaft, Deine Leserschaft und Wieder-Leserschaft reicht von Kalifornien bis Hokkaido, von Johannesburg bis BodØ, sie sitzt aber auch in Bichlbach und Bichlbächle im Außerfern, in Kalch im untersten Burgenlandzipfel und in Aderklaa im Marchfeld knapp hinter der Wiener Stadtgrenze

Bodo Hell, Wien


Bodo Hell stellte uns diesen Text am 4. Juni 2021 zur Verfügung, er ist Friederike Mayröcker (1924-2021) gewidmet .


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2 Antworten auf „Zu Friederike Mayröckers letztem Buch“

Wunderbarer Text. Eine Lust zu lesen, und mensch stürzt zum Regal, um nach dem Buch zu suchen, egal welchem

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