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auf alle Fälle Texte

Egofile 0.1

Im Jänner und Februar, beim Lesen von „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ habe ich mich – spielerisch und zugleich mit dem Gefühl, dass etwas überfällig wäre –, gefragt, wer „Die Welt von Gestern 2.0“ verfassen müsste, wohl am ehesten Autoren und Autorinnen aller Kontinente.

In einem seiner späteren Interviews antwortet David Bowie, als es um den Song Space Oddity (1969) geht, auf die Frage, ob er selbst gern ins All fliegen würde: „Himmel, nein, ich habe schon Angst, ans Ende meines Gartens zu gehen.“

Wien, 2020

Der Frühling ist so jäh da wie beinahe jeder im dritten Jahrtausend. Von meiner Einraumwohnung im fünften Stock verfolge ich die Fällung eines alten Baumes in einem engen Innenhof drei Blöcke weiter. Der Baum hat den letzten Sommer nicht überlebt. Ich habe nie einen Garten gewollt.

Lockdown, Ausgangssperre, confinement for security reasons, Meidling: Ich kann bis zum Wilheminenberg sehen. Die Wohnung ist meine Raumkapsel, Himmel und Fernblick geben mir Weite. Wer ein Auto besitzt, darf darin ins Grüne fahren, der Rest bleibt zu Hause oder rüttelt an den Toren der Bundesgärten. Öffentliche Verkehrsmittel gelten als todbringend, Bilder von Rehen beim Schaufensterbummel in einem menschenleeren Einkaufsparadies im Osten des Landes begeistern das Netz.

Nicht zuletzt dank der kaiserlichen Kunstfigur Robert Heinrich I. und seinem Bonusclub sind die Österreicherinnen und Österreicher zu 95 Prozent brav. Der Rest feiert Partys, die Betragensnote der Nichtösterreicherinnen und -österreicher ist Teil der Dunkelziffer. Nach Ostern sperren die Bundesgärten und kleineren Geschäfte wieder auf, das Verb der Stunde lautet hochfahren. Kaum jemand sagt noch der anstatt das Virus, Plexiglas als knappes Gut läuft einer Backzutat den Rang ab. Grundrechte und Versammlungsfreiheit, humanitäre und andere Krisen und Katastrophen sind selbst hinter vorgehaltener Hand kein Thema: Man fährt sich nicht mit den Händen ins Gesicht! Die Herde sieht über die Maske hinweg ihrer kontrollierten Durchseuchung entgegen, die Beschallung mit I am from Austria ist wieder abgeklungen.

Niederösterreich, 1974

Lieber Karl,

zu Deinem 38. Geburtstag
als verständnisvermittelnder Beitrag
zur Bemeisterung der manchmal unverständlichen,
vergangenheitsbedingten und -bezogenen Mentalität
unseres Gastlandes.


Dein Dieter

Diese Widmung schreibt Dieter aus Konstanz in ein Exemplar von Joseph Roths Radetzkymarsch. Der Beschenkte ist mein Vater. Ich überführe das Buch bald ungefragt in meinen Besitz, ob mein Vater es je gelesen hat, weiß ich nicht. In einer Ortschaft nahe Stockerau befindet sich direkt an der Bundesstraße nach Wien die kleine Fabrik, die Dieters Schweizer Ehefrau geerbt hat. Dieter ist Geschäftsführer. Mein Vater ist sein Stellvertreter, seine Geschäftsreisen führen ihn nach Portugal und Ecuador, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Stockerau ist jene Kleinstadt dreißig Kilometer nördlich von Wien, in der wir – Vater, Mutter, Kind – 1969 ein Einfamilienhaus mit Garten beziehen. Unser Leben davor findet in einer Wohnung in einem Mehrparteienhaus am Rand meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main statt: I am not from Austria.

Wien, 2019

Anfang Dezember wird mein zweites Buch fertig. Zum zweiten Mal kann ich mir nicht vorstellen, je wieder eine so schwere Arbeit zu beginnen, kokettiere mit einem Leben von Vorleserin bis Hundeausführerin. Im Wort Schreiben klingt fließende Bewegung, ich erlebe ein Aufhäufen von Brocken, die unablässig behauen und neu gefügt werden müssen, ein staubiges und langwieriges Unterfangen mit ungewissem Ausgang.

Das ist die eine Seite, auf der anderen misstraue ich jeder Eindeutigkeit und einem Tun, das ich als leichtgängig empfinde. Ich weiß mittlerweile auch, ich habe mich zu gedulden, bis sich Vorhaben als zwingend erweisen, eines ist seit Jahren skizziert, ein zweites trage ich seit Monaten als Bild mit mir herum.

In einer öffentlich-rechtlichen Mediathek begegne ich dem Stefan-Zweig-Biopic Vor der Morgenröte wieder und besinne mich zweier Zweig-Erzählungen als für das zweite Buch nicht unwesentliche Lektüren, Angst und Der Amokläufer. Ich habe den Film im Kino gesehen und schaue ihn mir nicht noch einmal an, lese auch die Erzählungen nicht wieder. Jetzt, wo ich nach Lust und Laune könnte, kann ich mir nicht vorstellen, je wieder zu lesen. Alles ist Versäumnis und Nachholbedarf, aber der freie Kopf ist leer, Logik und Vernunft sind mir zuwider, ich hänge in der Luft.

 … in a tin can far above the world planet earth is blue and there’s nothing I can do … (aus Space Oddity)

Ich lande in der Bücherei, entlehne unter anderem Zweigs Die Welt von Gestern, auch so ein Hätte-ich-längst-sollen. Der Untertitel lautet Erinnerungen eines Europäers, das Buch ist österreichischer Kanon wie der Radetzkymarsch. Das eine habe ich mehrmals gelesen, das andere immer wieder vertagt, jetzt könnte die Untergangsstimmung nicht besser zu meiner passen. Ich gedulde und gedulde mich, die Vorhaben bleiben auf Abstand, dafür muckt etwas in mir auf, das ich nicht zum ersten Mal abwehre.

Mein Buch erscheint am 7. Februar und soll auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt werden. Die obligate Herkunftszeile in der Kurzvita auf der Umschlagklappe lautet 1962 in Frankfurt am Main geboren, lebt seit 1969 in Wien. In ihrem Ausblick auf das Literaturjahr 2020 macht eine in der Steiermark, Kärnten und Osttirol erscheinende Tageszeitung die in Wien lebende Deutsche daraus, das klingt, als wäre ich eben hergezogen. Ich gehe zwar nach wie vor zum Pass-Verlängern auf die Botschaft, aber das lässt sich aus der Herkunftszeile nicht herauslesen.

Ich habe, nein, nicht eh immer schon geschrieben, halte bei neun Kurzgeschichten, einer Haikukavalkade, zwei Romanen. Ich bin eine österreichische Autorin, so sagen selbst jene, die solche Traditionslinien zu bestimmen wissen. Das ist gut, denn ich fühle mich als österreichische Autorin, ohne zu wissen, wie sich eine (echte) österreichische Autorin fühlt. Ich vermute, dass eine (echte) österreichische Autorin am ehesten kennzeichnet, dass sie über ihre Echtheit nicht nachdenkt.

Ich bin unsicher, immer schon. Österreich ist mein Container, woher ich komme, ist mir nicht anzuhören. Ich kenne kein Leid und keinen Krieg, keine Not, Flucht oder Vertreibung. Mein Wahlrecht im Herkunftsland ist erloschen, besteht in Wien auf Bezirksebene und in vollem Umfang auf Europaebene. Das In-der-Luft-Hängen in Eindeutigkeit umzuwandeln, wäre in meinem Fall reine Formsache. (Wenn auch zum Preis von eintausend Euro und des Singens der Bundeshymne.)


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