Im Januar war ich auf der Suche nach einem bestimmten Motiv und stöberte daher in meinen alten Notizen, die ich seit Jahren jahresweise ordne.
Inzwischen näherte sich die Corona-Krise, bald darauf sollten alle zu Hause bleiben, und ich suchte und stöberte immer noch. Damit steckte ich in der Vergangenheit, obwohl ich sonst die Gegenwart sehen will.
Die folgende Skizze (eine Erzählinsel) ist mir nicht etwa jetzt eingefallen, vielmehr ist sie mir wieder zugefallen, und immerhin handelt sie von einer früheren Gegenwart.
Vom Flughafen Hannover fuhr ich mit der S-Bahn in die Innenstadt. Ich saß links am Fenster, auf der rechten Seite ein gepflegter Mann um die 60, neben ihm ein praller Koffer, ihm gegenüber ein kleines Mädchen, schätzungsweise eine Sechsjährige. Sie fragte, warum die Großmama nicht mitgekommen sei. Die müsste das Zimmer für sie richten, denn man hätte sie (das Mädchen) ja erst einen Tag später erwartet. Die Kleine darauf: Sie habe ihn, den Großvater, viel lieber als Papa und Mama. Aber die Mama würde doch das Essen kochen! Nein, würde sie nicht, kochen würde der Papa. Oder die Frau vom Papa. Die Mama würde gar nichts machen.
Das Mädchen hatte abgetragene Strumpfhosen an und einen Pullover, der ihr höchstens bis zur Hüfte reichte. Keinen Rock, keine richtige Hose, als sei sie schnell aus dem Bett gestiegen und davongelaufen. Über dem Pulli trug sie einen kurzen Winteranorak, auch im warmen Zug. Als sie sich im Zug umschaute, rutschte die Jacke hoch, der Pulli auch, und das Bäuchlein war nackt.
Der Mann schaute in die Landschaft hinaus, und obwohl sie sich gegenübersaßen, streckte er nicht einmal die Hand nach ihr aus. Dann sagte das Mädchen, sie habe schon sieben neue Zähne. Und als keine Antwort darauf kam, fügte sie hinzu, dass es toll sei, so viele Zähne zu haben.
Wie war sie zu Hause mit dem großen Koffer aufgebrochen? War sie bei dem Abflug allein?
Vom Flughafen fährt man eine knappe halbe Stunde bis zum Hauptbahnhof, und nach etwa zwanzig Minuten hatte der Mann eine Idee. Er sagte dem Mädchen ein Verslein über die Sonne vor, wo sie aufgeht, wo sie mittags ist und wo in der Nacht. Die Sonne war zwar nirgendwo zu sehen, aber das Mädchen konnte das Verslein allmählich nachsagen, und da meinte der Mann: Na siehst du, das geht doch!
Zsuzsanna Gahse liest am 7. Oktober 2020 auf Einladung von prolit im Literaturhaus Salzburg aus ihrem Buch Schon bald (edition korrespondenzen).