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von Fall zu Fall Fragen

Schreiben ist eine einsame Sache

Leopold Federmair im Gespräch mit Petra Nagenkögel.

Es gibt die großen Linien des Romans, die „story“: Theo ist Übersetzer und lebt mit seiner Tochter in Tokyo. Seine Frau Yuuki geht in den Süden Japans, ihr Arbeitgeber schickt sie dorthin, sie macht einen „Versuch“ daraus und will für sechs Monate keinerlei Kontakt halten zu ihrem Mann und ihrer Tochter. Die beiden Hauptteile des Romans erzählen von diesen sechs Monaten, die für Theo und Yuuki zwar getrennt, aber zeitgleich verlaufen. Erzählt werden sie (in Er/Sie-Form) von Theo, der seiner Erzählung noch einen (philosophischen) Prolog (in Ich-Form) voranstellt. So einfach der „plot“ des Romans, so komplex ist die Dramaturgie. Die Vielstimmigkeit als Absage an „die eine“ erzählerische Wahrheit?

Vielstimmigkeit wird spätestens seit Bachtin als Definitionsmerkmal des Romans betrachtet. Und Faulkner hat dieses Schreiben als Stimmenhören, als einander überlagernde Stimmen, auf den Höhepunkt gebracht. Andererseits gibt es jene Autoren, die eine eigene Stimme haben und sie in allen ihren Werken zum Tönen bringen, durch die Münder und den Kopf – innerer Monolog – verschiedener Figuren, aber doch immer ihre eine, unverwechselbare Stimme. Ich schwanke da, in dieser Frage; in gewisser Weise simuliert ein Autor immer, wenn er sehr unterschiedliche Stimmen sprechen läßt. Wie sehr kann einer aus sich heraus? Wie weit kann er sich in andere hineinversetzen? Das ist eine ethische Frage, die nicht nur die Literatur betrifft.

In Die lange Nacht ist es ja so, daß Theo, der als Ich-Erzähler eingeführt wird, als Herausgeber des Manuskripts seiner Frau Yuuki fungiert. Wäre ich ein Leser meines Romans, ich würde vielleicht vermuten, daß Theo die Ich-Erzählung seiner Frau in die Sie-Form gebracht hat. Warum? Da öffnet sich ein weites Feld der Interpretation, das ich den Lesern überlasse.

Es gibt eine Zuspitzung im Roman, eine langsame Bewegung auf die Katastrophe zu: „Der Rhythmus von Katastrophe und menschlicher Illusion, war er nicht der prägende Rhythmus des Landes (…)?“, heißt es an einer Stelle. Die Katastrophe kommt konkret in Form von Flutwelle, Erdrutschen, Murenabgängen. Aber worin besteht die Illusion?

Die Illusion der Beherrschbarkeit. In Japan heißt das sehr oft: Illusion der technischen Lösungen. Menschliche Hybris, von der aber ein gewisser Anteil notwendig ist. Also Hybris vielleicht nicht, Japaner geben sich gern bescheiden, aber dieses irrationale Vertrauen in Technik und Planung ist eben auch verbreitet.

Kollektive Traumata sind als Hintergrund im Roman präsent, einige der Figuren tragen sie gleichsam als Erbe mit sich. Ein „Notfallrucksack für Erdbeben“ gehört zu jedem Haushalt. Man lebt mit der Katastrophe.

So ist es. Ein für mich wichtiger japanischer Autor, Junichiro Tanizaki, hat immer wieder über die verschiedenen Katastrophen geschrieben, er hatte tatsächlich Angst davor, gewöhnte sich weniger als die Durchschnittsjapaner. In dem großen Familienroman Sasameyuki – unter dem Titel „Die Schwestern Makioka“ ins Deutsche übersetzt – kommen sie alle vor, Taifun, Überschwemmung, Erdbeben.

Yuuki wird im Roman meist „die Einzelgängerin“ genannt. Ihre Vereinzelung erscheint aber nicht nur als individuelle, Vereinzelung wird aber auch sichtbar, wenn die japanische Gesellschaft in den Blick kommt. Höflichkeit und Formalismen prägen den Umgang miteinander. Im Arbeitsalltag gibt es keinerlei Kontakt zu Kollegen, dann aber trifft man sich einmal wöchentlich zum gemeinsamen Trinken. Ein Rhythmus zwischen Kontrolle und Ausbruch.?

Kann man so sagen, ja. Je stärker die Unterwerfung im Alltag, in der Arbeit, in der Schule, desto extremer die Ventilierung, deren Feld man so scharf wie möglich zu umgrenzen versucht, damit sie nicht in die anderen, ernsthaften Bereiche eindringt. Alle Bereiche immer streng getrennt, kein Spaß beim Lernen, beim Arbeiten. Yuuki ist eine relativ selbstbewußte Frau mit viel Auslandserfahrung, die lange mit einem Europäer zusammengelebt hat. Ohne daß sie will, gerät sie mehr und mehr in Widerspruch zum Kollektiv, zu einer kollektivistischen (zugleich kapitalistischen) Gesellschaft. Ich glaube, sie empfindet dabei eine Mischung aus Stolz und schlechtem Gewissen. Das ist übrigens eine der Fragen, die mir das Buch stellt.

Das Unkontrollierbare scheint auch ein zentrales Thema des Romans zu sein. Yuuki ist Analystin, sie ist beschäftigt mit Statistiken, Daten, Korrelationen, also mit der berechenbaren Welt. Dann wird sie konfrontiert mit dem völlig Unberechenbaren, mit der Flutwelle, dem Unzähmbaren der Natur. Und auch damit, dass die Statistik das nicht erfasst, was tief menschlich ist. „Wenn man eine Korrelation zwischen dem innerlichen Zittern eines Menschen (…) und dem ständigen Beben der Erde herstellen könnte?“

Da kann ich nur zustimmen. Der Roman beschreibt ja Entwicklungen, die weltweit zu beobachten sind. Quantifizierung, Digitalisierung, Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit. Inzwischen hatten wir die Corona-Krise, da zeigt sich einerseits, daß die Quantifizierung und die Datenbanken gewaltige Fortschritte gemacht haben, was zweifellos nützlich ist, wenn es darum geht, eine Pandemie einzudämmen. Auf der anderen Seite zeigen sich an all den Berechnungen auch die Grenzen sowie die Schädlichkeit einer Haltung, die davon ausgeht, daß in den Zahlen die ganze Wahrheit liegt.


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