Vladimir Vertlib: Liebe Zehra, Du bist Lyrikerin und Erzählerin, leitest Schreibwerkstätten für Jugendliche, warst lange Zeit und bist auch heute noch viel unterwegs. Eine künstlerische Laufbahn war für Dich nicht absehbar. Du bist gelernte Kosmetikerin und hast in diesem Beruf viele Jahre gearbeitet. In einem Interview hattest Du einmal gesagt, Deine Schreibbegabung sei gar nicht von Dir selbst, sondern „von anderen irgendwie erschnüffelt“ worden. Kannst Du uns etwas über Deine ersten Schreibversuche erzählen?
Zehra Çırak: Mein Vater war Musiker und Sänger, er spielte Saz und schrieb auch eigene Lieder, bevor er 1962 als Arbeitsmigrant von der Türkei nach Deutschland ging. Vielleicht ist mir etwas von meinem Interesse am Schreiben und an der Kunst doch von meinem Vater in die Wiege gelegt worden.
Meine ersten Schreibversuche waren tatsächlich aus Ärger heraus entstanden.
Ich durfte ab meiner Pubertät nicht mehr in den Turnverein. Ich war eine begabte Leichtathletin und die Trainingsstunden waren abends. Und abends hatte ein pubertierendes vierzehnjähriges Mädchen zu Hause zu sein. So war das in meinem sehr traditionellen Elternhaus. In dieser Zeit entstanden die ersten Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen. Wenige Jahre später – als gelernte Kosmetikerin – hatte ich Kontakt mit Menschen, die sich für meine Schreibversuche interessierten und mich bestärkten, weiterhin Gedichte zu schreiben. Vor allem erkannte mein damaliger Freund und späterer Lebensgefährte, der Bildhauer Jürgen Walter, sehr schnell mein Talent, und so schrieb ich dann auch nach unserem gemeinsamen Umzug nach Berlin 1982 die ersten Gedichte zu seinen Skulpturen. Diese Zusammenarbeit dauerte an bis zu seinem Tod im Jahre 2014.
Für Dein Schreiben hast Du mehrere Literaturpreise bekommen, unter anderem den renommierten Adelbert von Chamisso-Förderpreis 1988 und den Adelbert von Chamisso-Preis, den Hauptpreis also, 2001. Dieser Preis wurde an Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache vergeben. Welchen Einfluss hat Deine Zweisprachigkeit auf Dein Schreiben?
Da ich immer nur auf Deutsch geschrieben habe und in meinem Umfeld mehr deutsch als türkisch gesprochen wurde, hatte ich meine Gedanken, die ich aufschrieb, nicht einmal im Kopf ins Türkische übersetzt. Eigentlich sprachen wir zuhause nur mit den Eltern türkisch, selbst unter meinen Geschwistern haben wir fast immer nur deutsch gesprochen und nur wenn die Eltern anwesend waren türkisch. Ich habe die deutsche Sprache nie als Fremdsprache empfunden. Seit meiner Ankunft in Deutschland im Jahre 1963 bin ich zweisprachig aufgewachsen, und Deutsch stand für mich immer an erster Stelle.
Ich habe nur deutschsprachige Bücher gelesen. Ich habe also die türkische Sprache etwas vernachlässigt. Ich denke, die deutsche Sprache genügte mir in ihrer Farbigkeit und ihren Tönen. Die türkische Sprache stand gleichsam immer in der zweiten Reihe und fiel mir beim Schreiben nie ein.
Neben der eigenen schriftstellerischen Produktion ist Dir die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen besonders wichtig. Kannst Du etwas über Deine Ziele bei der Arbeit mit jungen Menschen, über Deine Herangehensweise und Konzepte erzählen?
Bei meinen Schreibwerkstätten geht es mir in erster Linie um den Umgang mit Gefühlen im Schreiben, um Empathie und um einen Perspektivwechsel der Schreibenden, egal, ob es Schüler ab der sechsten Klasse, Studierende oder Erwachsene sind.
Ich arbeite oft mit Kunstpostkarten aus verschiedenen Zeiten und Kunstrichtungen. Ein, zwei oder auch mehrere Motive nebeneinandergereiht sollen dazu inspirieren, eine kurze Geschichte oder ein Gedicht zu schreiben. Zum Beispiel sollen die Schreibenden versuchen, aus der Perspektive einer Katze, die sich in einem Gemälde befindet, oder eines Baumes in einem Landschaftsbild zu erzählen. Diese Methode gibt Raum, um über Dinge zu sprechen, über die man sonst nicht reden würde. Es ist reizvoll in eine Rolle zu schlüpfen, jemand oder etwas anderes zu sein.
Ich selbst habe Jahrzehnte so gearbeitet, wenn ich zu den Objekten von Jürgen Walter meine Texte schrieb. In den Schreibwerkstätten lebt also das weiter, was ich selbst lange gelebt habe. Die Verbindung von Bildender Kunst und Literatur.
Du blickst nun auf mehrere Jahrzehnte als Autorin zurück. Gibt es im Rückblick ein Ereignis oder eine Erinnerung von besonderer Wichtigkeit für dich?
Es ist nicht nur eine Erinnerung oder ein Ereignis, sondern das über drei Jahrzehnte gelebte Gefühl. Das Schreiben zu leben und das Leben zu schreiben und die Künste zu verbinden, gemeinsam mit meinen Texten und den Objekten von Jürgen Walter. Seit neun Jahren lebe und schreibe ich nun leider ohne diese Verbindung. In meinen Texten ist dieses „Loch“ nicht bemerkbar, aber es ist da. Und in meinem Alltag umgehe, umfliege und überstolpere ich es. Manchmal mit Blessuren. Gute und wichtige Freundschaften zu leben und zu pflegen, hilft mir durch die noch zu erlebende Zeit.
Am 16. November 2023 liest Zehra Çırak Gedichte und Kurzprosatexte in Wien. Vladimir Vertlib liest Texte des 2022 verstorbenen Autors Jad Turjman. Alle Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.
Zehra Çırak, geboren 1960 in Istanbul, zog 1963 mit ihrer Familie nach Deutschland um. Çırak wuchs in Karlsruhe auf und lebt seit 1982 in Berlin. Die Lyrikerin und Erzählerin war früher oft gemeinsam mit ihrem 2014 verstorbenen Ehemann, dem Objektkünstler Jürgen Walter, auf Performances zu sehen. 1987 erschien ihr erster Gedichtband Flugfänger (edition artinform), nach weiteren Gedichtbänden folgte u.a. 2011 der Erzählband Der Geruch von Glück (Hans Schiler Verlag, Berlin). Zehra Çırak erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises 1994 und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2001.
Vladimir Vertlib, geboren 1966 in Leningrad (heute St. Petersburg), lebt als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Zuletzt erschien der Roman Zebra im Krieg (Residenz Verlag, 2022). Im Frühjahr 2024 erscheint der neue Roman Die Heimreise im Residenz Verlag.