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Die Stadt der Geburt und der Erinnerungen

Als ich Adam Zagajewski in Berlin auf der Ostseite der inzwischen abgerissenen Mauer vorübergehender Trennungen und andauernder Zweifel traf und den Namen seiner Heimatstadt auf Makedonisch als „Lavov“ aussprach, sagte er, in diesem Augenblick sei er um einen weiteren Namen für seinen Geburtsort reicher geworden. Oft frage ich mich, wie viele Geburtsorte ein Mensch haben muß, um dem Tod zu entkommen oder den Erinnerungen an die Städte, in denen er jemanden verloren hat. Ich habe viele gute Freunde, die den Namen meiner Stadt falsch als „Strumisa“ oder „Strumika“ aussprechen und mich so in neuen Räumen ansiedeln, die nur die Architektur der Sprache und des Bewußtseins respektieren. Und wenn dieser andere Ort natürlich ist, wenn er sich nicht in den Häusern der Vergangenheit befindet, dann ist er unermeßlich (Gaston Bachelard). Doch ist es überhaupt möglich, eine Stadt zu konstruieren ohne Häuser aus Erinnerungen und ohne Denkmäler, die nur aufgrund von Reiseführern und kollektiven historischen Verlusten existieren? Wenn wir uns die Photos von unseren Reisen ansehen, stehen wir immer vor einem monumentalen Gebäude oder auf einem historischen Platz. Am seltensten in unserem Album sind die Photos von den Häusern, in denen wir leben, von den Räumen, in denen sich die Städte unserer eigenen Vorfahren und Nachkommen ausdehnen, langsam, wie lokale Friedhöfe, die im Laufe der Zeit den nächstgelegenen Hügel erobern. „Die Welt ist groß, doch in uns wird sie tief wie Meeresgrund“, schreibt Rilke. Wir reisen durch den Raum, durch die neuen Städte, um den archäologischen Fundstätten unserer eigenen Unbeständigkeit zu entfliehen. Wir bewohnen den Raum zwischen dem Monument und dem Moment, zwischen der Ewigkeit und der Menschlichkeit.

Die Stadt der Erinnerungen ist erbaut auf den Fundamenten eingestürzter persönlicher Sehnsüchte und Träume. In sie können wir ein- oder ausziehen, ohne auch nur einen einzigen Vertrag über eingeschränkte Bewegungsfreiheit aus den Archiven zweier kriegführender Staaten zu brechen. Die Städte, in die ich ziehe, erlebe ich meist als Zuflucht vor anhaltender innerer Flucht, so wie ein ordentliches Hotelzimmer für einen Gast, der die Sprache des Landes nicht versteht, in das er gekommen ist. Dieser emotionale Nomadismus kann die Grundlage für eine neue architektonische Harmonie der grenzenlosen Räume sein. Alain Bosquet verschob die Koordinaten des Greifbaren durch die Aussage, der Dichter sei nur in der Stadt, um zu behaupten, diese Stadt befinde sich an einem anderen Ort. Bei der Flucht zu etwas und nicht vor etwas öffnen sich die neuen Städte ganz von selbst, wie die Türen im Supermarkt, in dem es alles gibt außer Hoffnungen mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum.

Berlin ist meine neue Geburtsstadt, hier wurden Mauern eingerissenen, um neues Leben und Durchzug in die Überzeugungen zu bringen, im Gegensatz zum katastrophalen Erdbeben in Skopje von 1963, das sowohl Mauern als auch Leben zum Einsturz brachte, indem es die Überlebenden die Kunst des Vergessens lehrte. In der Erinnerung an die Mauern und Fenster, die nicht mehr existieren, im Aussprechen der geänderten ideologischen Straßennamen und in den Gerüchen des überreifen Gemüses auf den verlegten Märkten lebt die Nostalgie, die zuerst für eine Krankheit des Körpers gehalten und mit Opium, Blutegeln oder Aufenthalten im Hochgebirge behandelt wurde. Heute ist die Nostalgie die neue Stadt und das neue Heim, wo man sein ganzes Leben verbringen kann. Mein Vater lebt immer noch in dem, was Svetlana Boym reflexive Nostalgie nennt, die sowohl Zweifel als auch Sehnsucht in sich trägt, die untersucht, wie man an mehreren Orten und in mehreren Zeitzonen gleichzeitig leben kann. Mein Vater lebt in den Liedern seiner Jugend, in den Zeitungen, die ihr Format nicht verändert haben, in den Bergen, deren Namen er nicht kennt, und bei alledem erlebt er jeden Tag die Traumata der Gegenwart durch die Nachrichten im Fernsehen. Er reist, ohne Städte und Himmel zu verrücken, genau wie Borges über Odysseus schreibt, der seit seiner Heimkehr eine Nostalgie nach dem Reisen zu verspüren beginnt.

            Die Stadt ist unsere neue Natur, der neue Wald, der keine Früchte hervorbringt, das Polygon unserer mythischen Kindheit und das Mausoleum aller betonten Hoffnungen und Ambitionen. Selbst heute noch kann ich eine Stadt konstruieren mit all ihren Elementen von Lebendigkeit, wenn ich sämtliche Spielsachen, die in der Pappschachtel eines gebrauchten Fernsehers verstaut sind, ausschütte – kleine Autos, auf denen „Polizei“ steht, Ampeln, ein Bahnhof, ein kleines Haus mit Garten und ein Hund am Lattenzaun. Roland Barthes sagt, Spielzeug bedeute immer etwas, und dieses Etwas sei immer eng verbunden mit der Gesellschaft, es bestehe aus den Mythen oder der Technik des gegenwärtigen Lebens der Erwachsenen. Doch die Stadt der Erwachsenen ist vorhersehbar und groß – ausreichend, um die kindliche Sehnsucht nach Rekonstruktion und Harmonie zu wecken.


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