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auf alle Fälle Texte

fünfzig.2

Seit 1992 ist die Literaturzeitschrift SALZ bei den Rauriser Literaturtagen mit dabei, auch zum 50. Jubiläum ist eine Ausgabe erschienen. Ein Auszug aus dem Text „Abstand ist überall“ von Martin Mader, ausgezeichnet mit dem Rauriser Förderungspreis.

© Monika Pichler

fünfzig.2

Rauriser Literaturtage 2021

Ein Jahr musste das literaturinteressierte Publikum warten: Im April 2021 war es endlich soweit und das 50-Jahre-Jubiläum der Rauriser Literaturtage konnte nachgeholt werden. „1971 fanden zum ersten Mal Literaturtage in Rauris statt. Seither haben über 450 Autorinnen und Autoren aus verschiedensten Ländern in dem kleinen Markt in den Salzburger Bergen vor einem immer größer werdenden Publikum gelesen, jene, die am Anfang ihrer Laufbahn standen, ebenso wie viele große Namen‘“, schreiben die Intendant*innen Ines Schütz und Manfred Mittermayer in ihrer Einleitung zur SALZ Ausgabe.

Seit 1992 ist die Literaturzeitschrift SALZ bei den Rauriser Literaturtagen mit dabei, seit 2005 erscheint SALZ für unsere Leserinnen und Leser und das Rauris-Publikum direkt zu den Literaturtagen (vorher waren es „Nachlese-Ausgaben“).

Die Rauriser Literaturtage sind eng mit dem Rauriser Literaturpreis verbunden, viele Autorinnen und Autoren haben in der Folge Karriere gemacht. Seit 1973 wird außerdem der Rauriser Förderungspreis vergeben. 2020 wurden Angela Lehner (Rauriser Literaturpreis) und Vanessa Graf (Förderungspreis) ausgezeichnet, 2021 Benjamin Quaderer mit dem Rauriser Literaturpreis.

Texte der Preisträgerinnen und Preisträger und aller anderen eingeladenen Autorinnen und Autoren können Sie in der SALZ-Ausgabe 183 nachlesen. Cover und Bildteil des Heftes gestaltete Monika Pichler.

Hier können die einen Auszug aus dem mit dem Rauriser Förderungspreis 2021 Text „Abstand ist überall“ von Martin Mader lesen.


Abstand ist überall

Selbst außerhalb meiner Wohnung höre ich sie überall die furchtsamen Rufe
die flammenden Appelle
die flehenden Kommentare

ich höre sie schallen
ich höre sie durch menschenleere Gassen schallen
und ich höre ihre Klagen
abgehackt
wie kopflose Geister
spuken
durch menschenleere Gassen
spuken sie
aus den Fernsehgeräten
aus den Radiogeräten
aus den smarten Endgeräten
dringen sie
sie dringen durch Fenster
sie dringen durch Wände
sie dringen durch
sie dringen durch bis an mein Ohr
und sie gerben
gerben
und gerben mir das Trommelfell nach alter Handwerkskunst (das
Gerben ist eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften der Menschheit) und meine Ohrmuschel absorbiert diese Stimmen
und meine Ohrmuschel absorbiert diese Stimmen und ich höre, dass
das Spiel noch nicht vorbei ist
alles läuft noch
alles läuft noch
beinahe unverändert
sagen sie
der Ausgang ist offen
sagen sie
statistisch gesehen
kann alles noch gewonnen werden
sagen sie
oder zumindest
noch ist nichts verloren!
denke ich
noch wird gefochten!
höre ich
noch herrscht Hoffnung!
sagen sie
Kopf hoch, Kopf hoch, Kopf hoch
denke ich
und die Stimmen aus den hell erleuchteten
Häusern
sprechen von Aufholjagden
von heißen Ritten
von Zusammenhalt
und vom Rücken zur Wand
und sie heizen damit ein
und sie spannen alle damit an
und
die Spannung
die Spannung
sie steigt auch an
und an und an
und um uns herum
drohen die Wohnungen schon zu bersten
(die geöffneten Fenster dienen dem Druckausgleich. Ein Gähnen zur Regulierung des Drucks auf das Trommelfell)

die geparkten Wagen aber am Bordstein sie sehen erschöpft aus
denke ich
zusammengesackt

als wäre jegliche Luft aus ihnen entwichen erdrückt vom Gewicht der Welt
erdrückt von einem unsichtbaren Schleier aus Blei

ziehen sie lange Gesichter.

Ich lungere beim Kino herum
ich drücke noch glimmende Zigarettenstummel durchs Schlüsselloch
(ein weiterer Vorgang im Sinne eines Gähnens zum Zwecke des Druckausgleichs) ich rieche an alten Programmheften
sie sind taufeucht
und modern
wie alte Pilzcremesuppe
dann gehe ich weiter
weiter
weiter durch menschenleere Gassen
vorbei an den verlassenen Wagen
vorbei an verblassenden Theatern
und irgendwo ein Vogel
auf einer Rinne
ein Vogel sitzend auf einer Rinne
er beobachtet die Gassen
äußerst aufmerksam
beobachtet er die Gassen
sonst nichts und
es passiert auch nichts
es passiert auch einfach nichts
es passiert auch einfach nichts
denke ich
oberflächlich
steht alles still
aber in Wahrheit
aber in Wahrheit ist die Spannung riesengroß
in den Laternenmasten etwa
in den Telefonzellen etwa
sie stehen still aber flackern
sie stehen still aber flackern angespannt
und auch ich
auch ich bin still
auch ich bin still aber rauche
ich rauche angespannt
eine Zigarette
und dann noch eine
und dann die nächste
denke ich
und dann
und dann vibriert schon wieder der Boden
und dann vibriert schon wieder der Boden unter meinen Füßen und die geschlossene Fabrik
das stillgelegte Kraftzentrum unter der Stadt
sage ich vor mich hin
hält immer noch heimlich unsere Welt zusammen
wie lange das wohl gutgeht?
frage ich mich
und vielleicht ist es ja nur wieder falscher Alarmismus meinerseits
und vielleicht ist es ja nur wieder falsche Sorge um Nichts
sage ich mir
doch dann
doch dann vibriert schon wieder der Boden
und vielleicht ist es dieses Mal ja tatsächlich das Rumoren einer Turbine
oder vielleicht ist es diese Mal ja tatsächlich das Zucken einer Wärmepumpe
oder eine andere Maschine
steht kurz vor der Explosion
sage ich mir
und frage mich
täusche ich
täusche ich mich
oder spitzt nicht auch der Vogel seine Ohren?
und will nicht auch der Vogel auf und davon?
doch ein Entkommen gibt es nicht
ich weiß das
ich weiß das nur zu gut
und eigentlich will ich auch gar nicht
und eigentlich will ich auch gar nicht aber ich muss
ich muss Nacht für Nacht
zur Inspektion
zur Introspektion
zur Inspektion der Introspektion
oder umgekehrt
oder umgekehrt

Leselampe Salz

ich weiß das ja
aber kann es nicht ändern
ich weiß das ja
aber kann es nicht ändern
und schon nehme ich die Treppe
und kann es nicht ändern
und ich trete über Unrat und nasses Laub
nehme die Treppe dem Getöse entgegen
nehme die Treppe dem Getöse entgegen in den Untergrund
und kann es nicht
nein!
und
nein, nein, nein,
ich kann es nicht nur nicht ändern
ich will es auch nicht ändern
rufe ich den Stimmen in mir entgegen
rufe ich den ewig eindringlichen Stimmen in mir entgegen
ich hasse nämlich die Hoffnung
ich hasse nämlich die Hoffnung und ihr ewiges Rauschen
ich hasse die Hoffnung und ihr ewiges Rauschen aus Stimmen
in meinem Ohr
und endlich höre ich es vom Getöse übertönt
und endlich höre ich es vom Getöse übertönt aus dem Untergrund und ich gehe immer weiter
ich gehe immer weiter dem Getöse entgegen
und dann
und dann endlich
endlich – lässt das Rauschen nach
in meinem Ohr.


Die Literaturzeitschrift SALZ erscheint seit 1975 und in vier Ausgaben pro Jahr. Alle Informationen zu SALZ finden Sie hier. Die Bestellung von Einzelheften und Jahresabos ist auf der Website möglich, außerdem finden Sie ein SALZ-Archiv.


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