„Die Grenze ist niemals ein Graben, ein Zaun, ein Vorhang. Immer gibt es eine Naht, eine Fuge, eine Brücke.“ – schreibt Gusel Jachina in dem Stadt-Essay Sad na granice (2016; Der Garten an der Grenze)[1], den sie ihrer Heimatstadt Kasan widmet. Das Überwinden von kulturellen und sprachlichen Grenzen kann als Triebfeder dieser seit 2014 publizierenden mehrsprachigen (russisch, tatarisch, deutsch) Autorin betrachtet werden. Bislang hat Gusel Jachina drei Romane vorgelegt, die in Russland extrem hohe Auflagen erzielten und in über zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Ihr Debütroman Zulejcha otkryvaet glaza (2015; dt. Suleika öffnet die Augen 2017) über eine tatarische Frau in einem sibirischen Lager verarbeitet die Geschichte der eigenen Großmutter, er war 2019 das meistverkaufte Buch in Russland und wurde als achtteilige Fernsehserie vom staatlichen Sender Rossija 1 verfilmt.[2] Text und Verfilmung haben kontroverse Diskussionen über die Darstellung nationaler Traumata der Stalinzeit – die Gewalterfahrungen von Entkulakisierung und Zwangskollektivierung, Deportationen und Gulag – ausgelöst. Nach Deti moi (2018; dt. Wolgakinder 2019) ist Gusel Jachina derzeit mit ihrem dritten Roman Ėšelon na Samarkand (2021) auf Lesereise durch Russland unterwegs, in deutscher Übersetzung wird er 2022 unter dem Titel Zug nach Samarkand im Aufbau-Verlag erscheinen. Die Autorin wurde für ihre Romane bereits mehrfach ausgezeichnet: neben den renommierten russischen Literaturpreisen Bolʾšaja kniga und Jasnaja Poljana wurde sie 2020 mit dem Georg-Dehio-Förderpreis für AutorInnen, die sich in ihrem Schreiben mit Traditionen und Wechselbeziehungen der deutschen Kultur und Geschichte im osteuropäischen Raum auseinandersetzen, geehrt.
Wolgakinder reiht sich ein in die Tradition slawischer Flusstexte, die uns das Verstehen dieser Kulturen erleichtern, können doch Flüsse einerseits national bestimmte identifikatorische Funktionen einnehmen, andererseits aber auch die transkulturellen Dimensionen eines Kulturraums versinnbildlichen, indem die Bewegung des Fließens als eine permanente Durchdringung und Vermischung verschiedenkultureller Einflüsse lesbar wird. Die Wolga – in der russischen Tradition als Mutter Wolga vorgestellt – ist denn auch die eigentliche Heldin des Romans von Gusel Jachina. Über knapp 600 Seiten hinweg bildet sie eine, die verschiedenen geographischen und imaginären bzw. mythischen Räume verbindende Stromlinie durch den Text. In epischer Breite rollt der Roman die Geschichte der Wolgadeutschen Republik (1918-1941) auf, die eine lange Vorgeschichte hatte: Seit dem 18. Jahrhundert leben deutsche Auswanderer am Unterlauf der Wolga. Eine Szene zu Beginn des Romans schildert Katharina die Große, die diese als „ihre Kinder“ – so auch der Wortlaut des Titels im russischen Original – dort willkommen heißt. Die eigentliche Handlung umfasst mit den 1920er und 1930er Jahren jene zwei Jahrzehnte, die mit Sicherheit eine der dynamischsten Perioden in der Geschichte dieser Region darstellen, als nämlich nach Revolution und Bürgerkrieg der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf die sehr rückständige und vormoderne Welt der Wolgadeutschen prallt. Zu einem Schaufenster des sowjetischen Lebens sollte die Wolgadeutsche Republik gemacht und die Ideen der Kulturrevolution exemplarisch umgesetzt werden, bevor mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 dieses Experiment ein jähes Ende fand und viele Deutsche als mutmaßliche Kollaborateure Hitlerdeutschlands deportiert wurden.
[1] Der Essay ist 2016 in der russischen Zeitschrift Snob erschienen und liegt in der deutschen Übersetzung von Studierenden des Instituts für Slawistik der Universität Innsbruck (unter der Leitung von Dr. Eva Binder) vor. Jachina war dort 2020/2021 als „Writer in Residence“ zu Gast. Pandemiebedingt konnten bislang nur Teile der im Rahmen dieses Programms vorgesehenen Formate online realisiert werden. Gusel Jachina wird im April/Mai 2022 in Innsbruck vor Ort sein.