Zu der Zeit, als ich noch bei meinem Vater im Trabant mitfuhr, hatte ich – abgesehen davon, dass ich durchs Autofenster dem vor mir fliehenden Mond mit dem Blick zu folgen versuchte – die Angewohnheit, mir die Wegweiser genau zu betrachten.
Es war nicht meine Absicht, mir die Namen aller umliegenden Ortschaften einzuprägen, mich interessierte weder die Zahl, die ihre jeweilige Entfernung angab, noch bedrückte es mich, dass ich einen Großteil davon wahrscheinlich niemals besuchen würde, weil der Zugang für uns verboten war. Im Gegensatz zu meiner Schwester wollte ich auch gar nicht fort. Der Anblick der Ortsnamen auf den Schildern am Straßenrand beruhigte mich ganz einfach. Der Gedanke, dass es hinter der Grenze, die uns von ihnen trennte, immer noch andere Orte gab, verlieh mir Gelassenheit.
Auch damals waren wir die Straße entlanggefahren, auf der ich jetzt fuhr. Auch damals hatte ich mich so wie jetzt versichert, dass die Städtchen oder Dörfer auf der tschechischen Seite existierten, und auch damals war ich so wie jetzt hin und wieder auf einen Hinweis auf eine Ortschaft in Bayern gestoßen, von der ich wusste, dass wir sie nie betreten würden. Wie ein Versprechen oder eine Garantie tauchten die Namen vor meinen Augen auf und verschwanden wieder.
Es genügte mir zu wissen, dass es eine Option gab, dass etwas außerhalb des Glaskastens lag, in dem man gefangen war, und einen dort erwartete. Mich kitzelte der Gedanke, dass man sich hinüberstehlen könnte, plötzlich abbiegen, unsichtbar selbst für die Wächter mit den Kalaschnikows, und dort hinüber gelangen. Letzten Endes brauchte man ja gar nichts Besonderes zu tun. Nur der Gedanke, dass es einen Ausweg gab, half schon.
Diese Angewohnheit habe ich noch immer.
Wenn ich zu Schachturnieren reise und wir Landstraßen entlang fahren, bleibe ich immer noch mit dem Blick an den Wegweisern hängen, vor allem dann, wenn die Namen von Grenzorten darauf stehen. Sie bieten Offenheit, und das hilft mir in Augenblicken, in denen mich die Sorgen erdrücken.
Jetzt, während ich in Ludmilas Auto durch den Regen fuhr, las ich wieder die von den Scheinwerfern angestrahlten Namen, und der Phosphor warf mir gleißend das Echo meiner unveränderten Entfernung von allen umliegenden Orten, an denen ich noch nicht gewesen war, zurück. Ich dachte an alle Flüchtlinge der Achtziger, unter denen sich, wie ich erfahren hatte, auch meine Schwester befand, denen es, indem sie die Namen auf den Wegweisern miteinander verknüpften, als verbänden sie Punkte miteinander, gelungen war, sich Schritt um Schritt dem Regime davonzustehlen und auf die andere Seite des vereinfachten Labyrinths zu gelangen, um ihr früheres, unerträglich gewordenes Land ein für alle Mal hinter sich zu lassen.
Natürlich hatte ich nicht vorgehabt, Ludmila und Jens auf eine so wahnwitzige Art alleine in der Unterkunft zurückzulassen, aber ich musste meine Unruhe bezähmen, indem ich umherfuhr. Doch als es nicht aufhörte zu regnen und meine ungewöhnliche Verwirrung anhielt, fuhr ich nach einer halben Stunde bei einem Rastplatz ab und stellte den Motor aus.
Lange blieb ich dort, ins Leere starrend und stumm, während die Regentropfen unstet gegen die Windschutzscheibe klopften. Die Scheiben beschlugen, wahrscheinlich zum Beweis, dass ich da war, am Leben, auf dem Fahrersitz. Und ich rief mir in Erinnerung, dass ich jetzt als Erstes Minna das ganze Geschehen aus der Vergangenheit erklären müsste. Ich war müde und kraftlos, mir war von innen her kalt. In ähnlichen Augenblicken, wenn ich an nichts Besonderes denken wollte, wenn ich einsah, dass ich schwach war und nichts weiter mit mir anfangen konnte, ließ ich zumeist, um abzuschalten und die Müdigkeit oder Unzufriedenheit nach langen, sechs- bis siebenstündigen Wettkämpfen oder auch den harten Vorbereitungen darauf abzumildern, zufällig ausgewählte alte Radioreportagen laufen. Die Erzählerstimmen darin gehörten zumeist Menschen, die es nicht mehr gab, die aber doch noch existierten, so als wäre die Stimme für sie ein Körper der Unsichtbarkeit.
Mir fiel ein, dass Annamaria das Blättern im Weltatlas immer außerordentlich beruhigt hatte, das Lesen der Namen von Städten und Flüssen, von denen sie zum ersten Mal hörte, vor allem von sämtlichen Dörfern, Gebirgen und Meeresbuchten in Brasilien. Sie schmiedete Reisepläne, von denen sie wusste, dass sie unmöglich auszuführen waren. Minna wiederum kam zur Ruhe, indem sie ihren ein paar Kilometer von unserer Wohnung entfernten Garten, in den sie manchmal auch mich einladen wollte, um mir ihre Blumen und ihr Gemüse zu erklären, in Ordnung brachte.
Ich musste mich fragen, was all das, was mir in dieser Nacht widerfahren war, für eine Bedeutung hatte.
(…)
Davor Stojanovski, Rosental
Aus dem Roman „Ein Trost für die Nackten“ (2018)
Übersetzung: Benjamin Langer
Der gekürzte Text ist der aktuellen Ausgabe Literatur und Kritik (November 2020) entnommen, mit einem Vorwort von Karl-Markus Gauß, die demnächst erscheinen wird. Die Zeitschrift Literatur und Kritik, die mit ihren Herausgebern Karl-Markus Gauß und Arno Kleibel seit je ihr Augenmerk auch auf die Literatur weniger bekannter Regionen und Sprachgruppen richtet, stellt in ihrem aktuellen Heft die neueste mazedonische Literatur, die Dichter und Dichterinnen des 21. Jahrhunderts vor. Nikola Madžirov hat die Auswahl der AutorInnen gemacht.
Hier finden Sie alle Informationen zu Literatur und Kritik.
Die Ausgabe Literatur und Kritik wäre am 10. November 2020, veranstaltet von prolit und dem Otto Müller Verlag, im Literaturhaus Salzburg präsentiert worden, mit Lesungen von Nikola Madžirov und Davor Stojanovski. Die Veranstaltung wird verschoben.
Hier finden Sie einen Text von Nikola Madžirov, ebenfalls aus dieser Ausgabe.