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auf alle Fälle Texte

Drei Gedichte

von Christian Lorenz Müller

Kehlsteinhaus
(Berchtesgaden, Sommer 2014)

Ein Zwingreifen aus Granit
über aufspringendem Kalk.
Mit Wolken bewimperte Gipfel
in Panoramafenstern, der fjordblaue See
und in der Halle Selbstbedienung,
Schweinsbraten mit Knödeln
neben einem Marmorkamin,
der menschengroße Scheiter fasst.

Draußen auf der Terrasse
Kaffee und Kuchen. Was für ein Ort,
um über die Zerstörung
der Welt nachzudenken –
ein Schritt zu viel
und man stürzt ins Leere.
Nur wer rechtzeitig stehen bleibt
und auf die Karte schaut,
blickt ins Endstal hinunter,
auf den Schwarzort, den Brandkopf.

Freier und freier sperbert der Blick
beim Abstieg ins Tal.


Draußen ein Dorf
(Siebenbürgen, Sommer 2015)

Der Zug schleift über die Schienen,
wetzt durch die Kurven,
die Sensen, die Sicheln:
Ihr Blinken im Abendlicht.

Draußen ein Dorf.
Hier ist ein Tagwerk ein Tagwerk,
ein Schoppen ein Schoppen,
hier stehen sommers
Autos mit Nummernschildern
aus Spanien, Belgien, England
vor den Gehöften.

Heimat, das ist,
wenn die Verwandten
Kühltaschen mit Eiern und Gemüse
im Kofferraum verstauen,
wenn der Abschiedskuss der Mutter
so saftig ist wie die Fleischtomaten,
die im Garten reifen,
wenn die Eltern im Rückspiegel stehen
und weinen und winken.


Klarerweise Kuhglockengeläut
(Salzkammergut, Sommer 2015)

Bierschaum verflockt im Blau.
Fern, zwischen Felsgehörn,
ein milchweißer Gletscher.
Vor der geschindelten Wand
der Hütte sitzen Leute in Lederhosen.
So sehr mein Auge auch sucht:
Nirgends ein Smartphone
in den Hirschfängertaschen.
Die Dirndlschürzen sind über dem Steiß
zu liegenden Achten gebunden.
Klarerweise Kuhglockengeläut
und das zufriedene Seufzen
eines eben hervorgeholten Akkordeons.

Auch die Holzknechtnocken
und die Mehlspeise kommen aus einer Küche
und nicht vom Catering.
„Echt schön hier!“, rufst du,
als sie zu singen beginnen.
Mein ratloses Nicken
und das sorgfältig zurechtgezupfte Rot
der Geranien vor den Fenstern.

Christian Lorenz Müller, Salzburg


© Cover von Anna Aicher

Die Gedichte sind in der aktuellen Ausgabe SALZ mit dem Titel Heimaten erschienen. Mehr Informationen zum Heft finden Sie hier.

Am 1. Juli liest Christian Lorenz Müller aus seinen Texten im Literaturhaus Salzburg.


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