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auf alle Fälle Texte

Die Stadt der Geburt und der Erinnerungen

Deshalb bin ich mir auch selbst nicht sicher, ob ich zu meinem Geburtsort gehöre, der Ausdruck einer geographischen Konstante oder einer kulturwissenschaftlichen Variable ist. Als ich noch ein Kind war, lehrten mich meine Eltern nach dem Prinzip der semiotischen Reduktion zuerst, den Namen der Straße und die Nummer des Hauses zu nennen, in dem ich lebte, damit ich wußte, was ich den Leuten zu sagen hätte, sollte ich einmal im Leib der Stadt verloren gehen. Der Name der Stadt war damals überhaupt nicht von Bedeutung. Doch gleich bei meiner ersten Reise, die mich aus der Stadt hinausführte, hatte ich im Koffer alle lokalen Legenden und Erzählungen über sie dabei, die eng verbunden sind mit ihrem Vorhandensein in den Atlanten des kollektiven Bewußtseins. Ich akzeptierte alle nicht entzifferten Wörter, die in Stein gemeißelt sind, alle erfolgreichen und erfolglosen Taktiken der makedonischen Kaiser, alle Konturen der byzantinischen Kreuze und alle Steuern der osmanischen Eroberer …

            Berlin besaß eine Mauer, auf der kein Dach ruhte. Über ihr waren nur der Himmel und die menschliche Unsicherheit. Solch eine Geburtsstadt schläft nie. Selbst in der tiefsten Dunkelheit, wenn kein Vollmond ist und der Schnee nicht glitzert, steht sie neuen Einwohnern offen, die nie einen Schlüssel bei sich tragen. Ich habe mir schon immer vorgestellt, daß die neuen Städte dort geboren werden, wo die Straßenlampen beginnen. Ich konnte mir vorstellen, wie jeder meßbare Raum in der Dunkelheit versinkt, sogar mein Zimmer, doch niemals die Stadt. Die Straßenbeleuchtung ermöglichte es mir, das zu sehen, was auf der Erde ist, nicht aber das, was im Himmel ist.

Wenn alle Straßenlampen gleichzeitig ausgehen wie die Kerzen auf einer Geburtstagstorte, dann werden das Zentrum der Stadt und die Peripherien eins. Am Ende dieses Lichts beginnen die Straßen der Sehnsucht nach neuen Umzügen. Ich habe viele Geburtsorte; ich wünschte, ich hätte ebenso viele Sterbeorte.               

Aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann

Der Text ist bereits in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.


Nikola Madzirov, 1973 in Mazedonien geboren, lebt in Mazedonien als Lyriker, Essayist und Übersetzer.

Im Jahr 2020 hat Nikola Madzirov für Literatur und Kritik Texte ausgewählt, die zu einer Ausgabe mit neuester mazedonischer Literatur zusammengefasst wurden. Hier lesen Sie den Text Stimmen der Unzugehörigkeit von Nikola Madzirov. Im Herbst 2024 wird der Autor, auf Einladung von prolit, im Literaturhaus Salzburg zu Gast sein.


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