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auf jeden Fall Lektüren

Landschaft zur Sprache bringen

Wie lässt sich schreiben von den komplexen Systemen, die wir kurzerhand als „Natur“ bezeichnen, ohne sie zu überschreiben, ohne sie den Benennungen und Ordnungskategorienzu unterwerfen, die sie zum Objekt von Vermessung, Ausbeutung und Beherrschung werden lassen. Diese Frage ist Levin Westermanns „Zugunruhe“ auf jeder Seite eingeschrieben.

Wie lässt sich schreiben von den komplexen Systemen, die wir kurzerhand als „Natur“ bezeichnen, ohne sie zu überschreiben, ohne sie den Benennungen und Ordnungskategorien zu unterwerfen, die sie zum Objekt von Vermessung, Ausbeutung und Beherrschung werden lassen. Diese Frage ist Levin Westermanns Zugunruhe auf jeder Seite eingeschrieben. Der Autor, der schon in Lyrik und Essays die Möglichkeiten ausgelotet hat, zu einer Sprache für die Pluralität des Weltganzen, für den umfassenden Zusammenhang alles Lebendigen zu finden, öffnet auch in seinem neuesten Buch den Raum für Wahrnehmungs- und Verstehensweisen, die den bestimmenden Narrativen von Fortschritt und Zivilisation zuwiderlaufen. Zugunruhe ist eine furiose Absage an den menschlichen Anspruch auf Deutungshoheit über die Welt.

Der Erzähler, das Ich des Textes, reist nach Schwalenberg, eine Stadt im Norden Deutschlands, bekannt für die historische Varusschlacht zwischen Römern und Germanen. Dort recherchiert er für einen Auftragstext, in dem er „Landschaft zur Sprache bringen“ soll. Das ist der Ausgangspunkt für einen Prozess des Nachdenkens, den der Text in drei langen Abschnitten abbildet und der Inhalt wie Struktur des Romans konstituiert.

Der Erzähler also ist unterwegs, auf Bahnfahrten von der Schweiz nach Deutschland, auf Wanderungen durch Wälder oder entlang einer aus dem Fels gesprengten Seilbahntrasse im Schweizer Jura. Er durchstreift Landschaften, Gelände und Gegenden, die ihm zum Raum sinnlicher und elementarer Erfahrung werden und zugleich zu einem Raum, in dem Wahrnehmung und Reflexion ineinandergreifen. Immer sieht der Erzähler im Sichtbaren das Verborgene, das Darunterliegende mit, immer ruft er den größeren Zusammenhang auf, immer stellt er, was er sieht, in vielschichtige Bezüge und öffnet so den Blick auf die erdgeschichtlichen Dimensionen von Landschaft ebenso wie auf ihre kulturellen Überformungen und schließlich auf Kontinuitäten von Zerstörung und Gewalt und den (vorläufigen) Endpunkt zivilisatorischer Entwicklung, an dem wir zusehen, „wie die Welt in Echtzeit verbrennt.“

Der mäandernden, auf alle Schichten hin durchlässigen Wahrnehmung des Erzählers korrespondiert die Bewegung des Schreibens. Es ist eine ruhe- und atemlose, eine sich assoziativ fortsetzende Bewegung, die in vielfachen Überlagerungen und Verschränkungen scheinbar Disparates zusammenführt – in einem Auffalten, einem Auffächern des Erzählens, das auch formal jene Trennungen unterläuft, in denen wir zu denken gewohnt sind: zwischen Geschichte und Gegenwart, Kultur und Natur, Mensch und Tier.

Alles ist mit allem verbunden – und so finden sich in diesen Prosastrom auch die Notizen eingewoben, die der Erzähler mit im Gepäck hat, Zitate aus Zeitungsartikeln oder historischer, soziologischer, philosophischer Literatur, dazu Fotografien, in den Text als Bildspur gesetzt, die eine weitere Bedeutungsebene eröffnet, und nicht zuletzt Zitate seiner literarischen Wegbegleiter:innen, von Ilse Aichinger und Marlen Haushofer bis zu – meist amerikanischen – Lyriker:innen, die es im deutschen Sprachraum erst noch zu entdecken gilt.

Es sind so unerwartete wie erhellende Korrespondenzen, die sich auftun, wenn der Erzähler seine gedanklichen Bögen spannt: Von der deep time, der mit menschlichem Maß nicht fassbaren geologischen Zeit zu den Zusammenhängen zwischen Topografie und Kriegsführung; von den Klopfgeräuschen eines Rasenmähroboters zur Raumsonde Jezero und weiter zu den Plänen von Elon Musk zur Besiedelung des Mars; vom Erleben des Waldes und der „Präsenz des Unheimlichen“ zum kretischen Labyrinth des Minotaurus; von den Schnecken, die als ursprüngliche Meerestiere auf die Anfänge der Welt verweisen, zu einer aufgegebenen Raketenstation des ehemaligen Nato-Verteidigungsgürtels; Vom unterirdischen, 50 Quadratmeter  großen Bau einer Ameisenkolonie über die Spaziergänger, die während der Corona-Pandemie den Wald für sich entdecken, zu den Rhesusaffen, an denen unsere Impfstoffe getestet wurden. Von den Mauerseglern, die imstande sind, während ihres Flugs zu schlafen, zum Londoner Auktionshaus, das im Jahr 1888 die Federn von 400.000 Kolibris als dekorativen Kleiderschmuck versteigerte; Und weiter, ins Zentrum des Textes gesetzt, zu r58, einem der zahllosen mit Nummern versehenen Vögel, an denen in so grausamen wie grotesken Experimenten die titelgebende Zugunruhe erforscht wurde.

Dass der Roman bei aller Fülle an Reflexionen und Wissen, die er entfaltet, nie überfrachtet wirkt, sondern im Gegenteil einen Sog erzeugt, dem man sich nicht entziehen will, liegt an der Komposition des Textes, die das Erzählte immer wieder rückbindet an das Jetzt des Erzählens – und damit an eine Gegenwart, die uns betrifft.

Die Dichte und Intensität des Romans und die Wirkung, die er hinterlässt, haben nicht zuletzt mit der schonungslosen Unbedingtheit eines Autors zu tun, der sich aussetzt: dem Greifbaren wie dem Unbegreifbaren des „ökologischen Ausnahmezustand(s)“, in dem wir uns befinden, und der Trauer, der Wut und der Scham, die damit einhergehen und die, das macht der Text deutlich, zum unabdingbaren Grund seines Schreibens geworden sind.

Levin Westermanns Zugunruhe ist ein zwingendes, ein notwendiges Buch. Es lädt ein zu einer produktiven, potentiell unabschließbaren Lektüre, weil sich Satz für Satz Verbindungen auftun, denen nachgegangen werden kann. Vor allem aber lädt es dazu ein, vorgebliche Gewissheiten und scheinbare Normalitäten in Frage zu stellen und uns einzuüben in eine empathische, eine teilhabende Betrachtung und Erfahrung von Welt. Denn, um mit Ursula K. Le Guin zu schließen, die der Autor mehrfach zitiert: „It Doesn’t Have To Be The Way It Is“.

Der Beitrag ist in leicht geänderter Form erstveröffentlicht auf Ö1
in der Sendung Ex libris am 21.4.2024.


© Verlag Matthes & Seitz

Am 29. April 2024 liest Levin Westermann aus seinem Roman Zugunruhe, der 2024 im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist. Hier finden Sie alle Informationen zum Autor und zum Buch. Die Lesung findet auf Einladung des Literaturvereins prolit im Literaturhaus Salzburg statt, alle Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.


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