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auf jeden Fall Lektüren

Dick, Dorf, Dialekt

Diese drei Ds stellt Daniela Dröscher als bestimmende Merkmale ihrer Herkunft im neuen Roman „Lügen über meine Mutter“ heraus. Schon in „Zeige deine Klasse“ widmete sich die Autorin anhand ihrer eigenen Familie dem vernachlässigten Thema der Klassengesellschaft.

© Kiepenheuer & Witsch

Diese drei Ds stellt Daniela Dröscher als bestimmende Merkmale ihrer Herkunft im neuen Roman Lügen über meine Mutter (2022) heraus. Schon in Zeige deine Klasse (2018) widmete sich die Autorin anhand ihrer eigenen Familie dem vernachlässigten Thema der Klassengesellschaft. Im jüngsten, für den Deutschen Buchpreis nominierten Werk schildert sie aus der Perspektive eines Kindes die Konflikte zwischen ihren Eltern, die sich vor allem um Geld, Herkunft und das Übergewicht der Mutter drehen. Alltagskram, wie es scheint, doch in Dröschers Darstellung werden in einer Abfolge von lebendiger, dialogreicher Erzählung und kurzen analytischen Einschüben die Verschränkungen dieser angeblich privaten Probleme mit gesellschaftlichen Vorbedingungen im Laufe der Lektüre immer deutlicher. Beide Elternteile stammen aus Unterschichtsfamilien, die Mutter ist Kind von aus Schlesien Vertriebenen und wird von ihrer Umgebung gern als eine „von auswärts“ bezeichnet, der Vater stammt aus bäuerlichem Milieu mit Ambitionen in Richtung Mittelklasse. Leider aber gelingt ihm immer alles nur halb, obwohl er zwanghaft versucht, zumindest äußerlich bürgerlichen Vorgaben zu entsprechen. Dazu gehören der Bau eines geräumigen Hauses, repräsentative Autos, Tennis und eben die herzeigbare Ehefrau, ein Ideal, das die Mutter aufgrund ihres nicht wegzufastenden Übergewichts verfehlt. Er leidet darunter, von seinem Chef nicht genug respektiert und nie befördert zu werden. So arbeitet sich der von gesellschaftlichem Aufstieg besessene Vater am Körper seiner Frau ab, kontrolliert ihr Gewicht, zwingt sie zu Diäten, straft sie mit Verachtung und Missachtung, unterwirft sie einem „Terror der Waage“, dem sie, um die Familie zusammenzuhalten, immer wieder nachgibt. Das Kind beobachtet diese Vorgänge, „wie eine kleine Privatdetektivin“, wird in die Kämpfe hineingezogen und begreift früh, dass der Körper einer Frau nicht allein gehört, sondern dass er benützt wird, damit die männliche Rolle im kapitalistischen Patriarchat keinen Schaden erleidet. Die Stimmung des Vaters legt sich als Atmosphäre über die gesamte Familie, „Sein Gesicht war unser Wetter“, schreibt die Autorin. Dazu kommt die Ausbeutung weiblichen Potentials durch die zunehmende Sorgearbeit, die Dröschers Mutter zu leisten hat: Die Versorgung von Haushalt, zwei Kindern, eines Pflegekinds, das der Vater immer wieder loswerden will, sowie einer bettlägerigen Mutter, sind ihr allein auferlegt und beginnen allmählich an ihren Kräften zu zehren, ihre Gesundheit leidet. Lesend wird man in die fatale Konstellation gegenseitiger Abhängigkeiten hineingezogen und beginnt diese Familie mit der eigenen zu vergleichen, oft mit schmerzlichen Ergebnissen. Gerade die Thematisierung von Essen als Mittel sozialer Kontrolle und Instrument der Unterwerfung des weiblichen Körpers ist im Zeitalter medialer Selbstdarstellung und Selbstoptimierung, wovon ein enormer Industriezweig, angefangen bei Diät-Produkten, Schlankheitskuren, Medikamenten, Schönheitschirurgen etc., profitiert, dringender denn je. Große Empfehlung.


© weissbooks

Sabine Scholl liest auf Einladung des Literaturforums Leselampe aus ihrem neuen Roman Die im Schatten, die im Licht (weissbooks 2022) am 12. Oktober 2022 im Literaturhaus Salzburg. Die im Schatten, die im Licht steht auf der ORF Bestenliste Oktober und wird mit dem Preis der Stadt Wien für Literatur 2022 ausgezeichnet.

Alle Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier. Alle Informationen zum Buch und zur Autorin finden Sie hier.


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