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auf jeden Fall Lektüren

Bartleby, der Schreiber

Fragen Sie mich nicht nach den Gründen dafür, dass „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville in Zeiten einer globalen Pandemie die einzig richtige Lektüre ist. Sie bekommen von mir keine schlüssige Erklärung.

Fragen Sie mich nicht nach den Gründen dafür, dass Bartleby, der Schreiber von Herman Melville in Zeiten einer globalen Pandemie die einzig richtige Lektüre ist. Sie bekommen von mir keine schlüssige Erklärung. Ich versichere Ihnen, dass jedes meiner Herzensbücher zu jeder Zeit die einzige richtige Lektüre ist. Haben Sie Meine Freunde von Emmanuel Bove schon gelesen? Tun Sie es unbedingt, jetzt! Zenos Gewissen von Italo Svevo? Duldet keinen Tag Aufschub! Aber halt, ich schweife ab, zurück zu Bartleby, dem Schreiber, der lieber nicht möchte.
Mitte März, am zweiten Tag der Quarantäne telefonierte ich mit meinem Lektor und brachte meine Angst vor all den Büchern zum Ausdruck, die in nun geschrieben würden. Wie es sich für einen Lektor gehörte, beruhigte er mich. Wenn alles vorbei sei, gebe es ohnehin keine Verlage mehr, folglich auch keine Bücher und keinen Grund sich vor ihnen zu fürchten. Am sechsten Tag der Quarantäne hatte ich die erste eigene Idee für ein Buch zur Lage. Ich setzte mich sogleich hin und las Bartleby, der Schreiber. Die Idee für meine Geschichte hatte ich dem Tagebucheintrag einer geschätzten Kollegin entnommen. Die Struktur wollte ich Melvilles Erzählung abkupfern. Hier meine Analyse:

Ich bin nicht mehr jung. Ich habe viele Schreiber gesehen. Dieses eine Schicksal ist erzählenswert. Anfangs schreibt er Tag und Nacht. Wenn er frohen Mutes wäre, hätte ich Freude an seinem Fleiß. Dann gebe ich ihm einen Auftrag und bekomme die Antwort: Ich möchte lieber nicht. Ich überhöre es. Dann folgt ein gewichtiger Auftrag, zu dem alle versammelt sind, und wieder möchte er lieber nicht.

Es ist nicht selten der Fall, dass ein Mensch, wenn ihm auf eine noch nie dagewesene und krass der Vernunft widersprechende Weise entgegengetreten wird, in seiner eigenen, simpelsten Überzeugung zu schwanken beginnt. Er beginnt gewissermaßen dunkel zu argwöhnen, dass alles Recht und alle Vernunft, so verwunderlich es auch sein mag, auf der anderen Seite seien.

Er geht nie weg und isst nur Ingwernüsse. Der arme Mensch. Es ist offenkundig, dass er nichts Unverschämtes im Sinne hat. Woanders würde es ihm schlecht gehen. Ich mache eine Probe aufs Exempel und übertrage ihm die nichtigste Aufgabe. Er weigert sich. Er wird zur feststehenden Tatsache. Ich söhne mich aus mit ihm. Sein Hauptvorzug: Er ist immer da. Am Sonntagmorgen steckt der Schlüssel von innen. Er öffnet im Morgenrock, aber er lässt mich nicht ein. Er wohnt in der Kanzlei. Wie einsam er ist.

Ach, das Glück huldigt dem Licht, daher glauben wir, die Welt sei heiter; das Elend dagegen hält sich abseits verborgen, daher glauben wir, es sei nicht vorhanden.

Mein Mitleid geht in Widerwillen über. Was tun mit ihm? Ihn zu seinem vorherigen Leben befragen. Ich schicke ihn zurück. Ich bezahle die Reise. In Anbetracht meiner guten Behandlung werfe ich ihm Verachtung, Verstocktheit und Undank vor. Ich fordere seinen Auszug. Ich setze eine Frist von sechs Tagen. Ich bin stolz auf die Eleganz der Lösung. Am nächsten Morgen kommen mir Zweifel.

Er war mehr ein Mann des Liebermögens denn der Voraussetzungen.

Er ist noch da. Er möchte mich lieber nicht verlassen. Meine Sendung in der Welt ist es, ihn mit Kanzleiraum zu versehen. Die anderen sind es, die böse Bemerkungen machen. Getuschel. Ich nehme alle Kräfte zusammen, um mich von diesem Alb zu befreien. Ich kann ihn nicht hinauswerfen. Da er mich nicht verlassen will, muss ich ihn verlassen. Die Kanzlei zieht um. Er steht im leeren Raum. Ich reiße mich von ihm los. Die ersten Tage am neuen Ort, zucke ich bei jedem Schritt zusammen. Als ich schon glaube, dass alles gut ist, kommt ein Fremder und fragt, ob ich der Mieter der alten Räume war. Also sei ich verantwortlich für den Mann, den ich zurückgelassen habe. Wieder ein paar Tage später kommt der neue Mieter mit dem Eigentümer. Sie fordern, dass ich ihn wegschaffe. Er geht mich nichts an. Trotzdem rede ich noch einmal mit ihm. Es hilft nichts. Ich flüchte und fahre tagelang mit der Kutsche herum. Der Hauseigentümer lässt ihn von der Polizei abholen. Ich fahre ins Gefängnis. Er ist ein redlicher, unbescholtener Mensch. Ich finde ihn im stillsten Hof. Er will nicht mit mir reden. Ich gebe dem Wärter Geld, damit er sich um ihn kümmert. Aber er will nicht essen. Ein paar Tage später besuche ich ihn ein zweites Mal. Er hat sich in den Hof gelegt. Ich schließe ihm die Augen. Er schläft mit Königen und Ratsherren. Damit ist mein Bericht zu Ende. Eine Kleinigkeit noch, die mir zu Ohren kam. Er hat vorher im Dead Letter Office gearbeitet.

O Bartleby! O Menschheit!

Lesen Sie Bartleby, der Schreiber! Vor meiner eigenen Erzählung brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Es wird weiterhin Verlage und Bücher geben, aber ich habe in den 125 Tagen seit Beginn der Quarantäne erst eine Seite davon geschrieben. Für eine Geschichte im Umfang von Bartleby, der Schreiber werde ich noch etwas mehr als dreissig Jahre brauchen. Vielleicht werden wir bis dahin etwas genauer wissen, was der gegenwärtige Zustand mit uns macht.

Lorenz Langenegger, Wien


Zuletzt ist Jahr ohne Winter von Lorenz Langenegger erschienen (Jung und Jung Verlag, 2019), hier ein Lektüretipp zum Roman.


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