Kategorien
auf alle Fälle Texte

An den Balaton!

Um darüber zu schreiben, möchte ich ein Foto von damals finden; doch in all meinen Alben und den in Schubladen verstreuten Kuverts findet sich kein einziges. Schließlich mache ich meine Reisegefährtin von damals wieder ausfindig, aber sie hat auch keines. Doch als ich nach so vielen Jahren am Telefon ihre Stimme höre und sie erzählt, dass ihre Beine zu kurz waren, um so weit in den See hineinzuwaten wie ich, sehe ich ihr langes schwarzes Lockenhaar wieder auf ihre Schultern fallen. Und schaue auf den Balaton und den Sonnenuntergang.

So naiv wie damals und nur mit offenen Augen möchte ich noch einmal dorthin fahren. Aber dazu dürfte ich von der heutigen politischen Situation in Ungarn nicht mehr begreifen als ich damals vom Gulaschkommunismus verstanden habe. Und ich dürfte wie damals noch kein Werk der ungarischen Literatur gelesen haben. Aber darauf kann ich nicht verzichten, denn Bücher von Imre Kertész, Péter Esterházy, György Dragomán oder Attila Bartis sind ein Teil von mir geworden. Darum muss ich einsehen: Ungarn und den Balaton kenne ich zu gut, dort kann ich genauso wenig naiv sein wie in Österreich.

Aber gut, dass es kein Foto von damals gibt; und dass meine Erinnerung durch keinerlei Fakten korrigiert wird. So kann ich mich ganz den inneren Bildern überlassen, die mir von diesen Tagen geblieben sind. Als ich auf der Loggia meiner Wiener Wohnung zu schreiben beginne, überziehen sie die graue Hauswand gegenüber, und für kurz kehrt wieder die Ruhe von Sonne und See bei mir ein; und die Faszination jener Tage am Balaton. Wie weit müsste ich heute fahren, in welche Exotik müsste ich mich begeben, um noch einmal so fasziniert zu sein wie damals, als ich zum ersten Mal den Balaton sah und noch nicht ahnen konnte, dass mir später, in den 1990er Jahren, sein Südufer bei Siófok für so manche Wochenenden und Sommertage zu einer zweiten Heimat werden sollte?

Jüngere Erinnerungen drängen heran, sie können die Bilder der Sommertage von 1983 leicht überlagern. Ich muss Zuflucht nehmen bei einer violetten Zwiebel und sie vorsichtig schälen, bis mir ihr Glanz hineinleuchtet in das dunkle Wohnzimmer von damals, in Sonne und See. Die violette Zwiebel macht mich noch immer staunen, sie weist mir den Weg in die Einzigkeit jener Tage und zeigt mir, wo ich hinmuss, um Ruhe zu finden: an den Balaton!


Vorgetragenanlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Balaton + Retro. Werbung und Propaganda für den idealen Urlaub 1930–1988“ am 25. Mai 2023 am Collegium Hungaricum in Wien.


Beitrag teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert