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von Fall zu Fall Fragen

Von der „Berührung im leisen Spiel mit der Sprache“

Im Herbst 2023 ist Nasima Sophia Razizadehs Debüt „Sprache und Meer“ erschienen, außerdem war sie als H.C. Artmann-Stipendiatin in Salzburg zu Gast. Die Autorin im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Corinna Sauter.

Das Nachdenken über Sprache findet in Ihrem Buch als ein Denken in Bildern statt – in Vergleichen, Gleichnissen, Personifikationen, Metaphern und Bildbrüchen. Der Widerspenstigkeit der Worte gegen die Stillstellung der Bedeutung im Begriff verhelfen Sie auch durch Wörtlichnehmen zu ihrem Recht. Das auch dort, wo sie auf die Fundamentalontologie Martin Heideggers zurückgreifen, indem sie dessen Katachresen nun tatsächlich als Bilder fortspinnen. Die Frage nach dem Verhältnis von Erfahrung und Benennung in Sprache und Meer, aber auch die neuartige poetische Beschreibung von Empfindungen, Vorstellungen und Begegnungen durch Bilder legt eine gewisse Nähe zur Phänomenologie als Methode nahe. Edmund Husserl wird mit der „Stimmigkeit“ in Ihrem Buch auch eingespielt. Wie stehen Sie zur Phänomenologie?

Ich müsste einen Schritt zurückmachen vielleicht und überlegen, wie ich zur Philosophie stehe. Und tatsächlich spielt und hat die Philosophie eine wichtige Rolle gespielt, allerdings bin ich der Anziehung, die diese Disziplin immer schon auf mich hatte, nur bruchstückhaft und sehr launisch nachgegangen, habe also lediglich gelesen, was ich lesen wollte. Sicherlich können bestimmte Begriffe in Sprache und Meer auch als Anspielungen auf philosophisches Vokabular gelesen werden, obgleich ich sie im eigentlichen Schreibprozess keineswegs philosophisch oder als Zitate denke, sondern selbst erst später beim ersten eigenen Lesen darin auch das Gelesene wiedererkenne, etwa der Mittag (Friedrich Nietzsche) oder das Ereignis und die Lichtung (Martin Heidegger). Ich spreche mit diesen Gestalten aus Liebe zu ihren jeweiligen Sprachen, nicht so sehr um an Gedanken anzuknüpfen. In solchen spurhaften Ansprachen unterscheide ich nicht zwischen Philosophen und Dichtern. Zur Phänomenologie: Der Phänomenologie, muss ich gestehen, misstraue ich. Es muss hinzugefügt werden, dass ich ihr von einem Standpunkt aus misstraue, der sehr angreifbar ist. Ich sage das ohne einen theoretischen Sockel unter mir. Aber vielleicht rückt mich das gerade in die Nähe der Phänomenologie, zumindest, wie Sie vorschlagen, methodisch. Meine Phantasie zur Phänomenologie ist, dass sie dem Unmittelbaren möglichst unmittelbar zu begegnen versucht. Das, was erscheint, das Phänomen, nicht nur als das, was es ist, begreifen will, sondern ihm in der Weise, wie es erscheint, zu entsprechen versucht, zu entsprechen begehrt. Doch da setzt das Misstrauen ein, und es ist vielleicht ein Misstrauen, das ich auch meinem eigenen Schreiben gegenüber manchmal empfinde. Die Phänomenologie kann dem, was erscheint, eben nur sprachlich entgegenkommen. Ich kann schlichtweg nicht annehmen, dass meine Sprache eine Entsprechung findet außerhalb ihrer selbst, außerhalb der Sprache. Ich habe die Vorstellung, dass eher das Nicht-Sprachliche in der Sprache selbst gesucht werden muss, als dass es möglich ist, sich mit der Sprache von oben über das Nicht-Sprachliche zu beugen, und dabei etwas zu finden, was es ohnehin schon gibt. Ich finde zurück zu einem Dichter, Paul Celan, und meine, alles in diesen wenigen Worten zu finden, was ich suche, in und mit der Sprache: „Aber das Gedicht spricht ja!“ und dann „Ich spreche ja von dem Gedicht, das es nicht gibt!“ Ich will schreibend schon nicht mehr sprechen müssen. Ich suche keinen Gegenstand mehr, sondern immer nur ein Gegenüber.

Sie haben von der Erfahrung berichtet, dass Leser:innen Ihnen – dann als sehr konkrete ‚Gegenüber‘ – ihren Lektüreeindruck mitteilen und auch, an welche Autoren sie sich beim Lesen erinnert fühlten. Darunter war Rimbaud, man könnte auch an Rilke denken. Leser:innen interessieren sich für den jeweiligen ‚Kanon‘ von Autoren. In Sprache und Meer begegnen einige von ihnen, die teils schon erwähnt wurden: z. B. Hölderlin, Carroll, Flaubert, Dostoevskij, T.S. Eliot und Kafka. Über das Lesen und das Verhältnis des „Vielkopfes“ Autor zu seinen Lesern findet sich auch eine Reflexion im Buch. In welchem Verhältnis steht der Schreibprozess zu Ihrer eigenen Lektüre?

„Von meinem Handwerk wird man dann sagen: / Es hat einen brennenden Boden.“, schreibt Christine Lavant am Ende eines Gedichts, dessen erster Vers lautet „Hab ich den Vogel erfunden“. Ich muss an diese Zeilen denken, da sie, scheint mir, keineswegs nur auf eine prekäre oder gefährliche Seite des Schreib-Handwerks verweisen, sondern auch auf das vom Boden her dem „Handwerkenden“ Entgegenzüngelnde, die früheren Stimmen. Das ließe sich überdies gut mit der Frage aus der ersten Zeile zusammenlesen – nicht nur die Frage nach dem Erfinden des Vogels, sondern auch seiner Bezeichnung, des Worts „Vogel“. Auch ist die Rede vom „in die Wälder gehen“, vom „Wurzeln graben“ und vom „klauben“ – wie ließe sich das Lesen besser fassen? Ich spreche und spiele gern mit dem Gelesenen, schon beim Lesen vielleicht, aber immer einmal wieder auch beim Schreiben. In den Texten in Sprache und Meer tauchen teils kursive Worte auf, die auf einen literarischen Ursprung zurückgehen, denen man aber den Zitatcharakter nicht mehr ohne Weiteres immer ansehen kann, vermutlich. Beispiele wären die Wörter plötzlich, trotzdem, Revier und Zwang (in Nachbarschaft zum Wort Licht), Gegenwort, stiften oder der Name Alice. Möglicherweise sind selbst mir manche Anspielungen nicht bewusst. Wenn Leserinnen oder Leser meiner Texte mich auf solche mir unbewussten Bezüge in meinen Texten hinweisen, ist das wunderbar, dann weiß ich gleich, was ich als nächstes lesen werde – so etwa Rimbauds Zeit in der Hölle. Das unbewusste Zitieren und Übertragen ist aber vermutlich eben eine Eigentümlichkeit im Umgang mit der Sprache. Immer wieder greifen wir auf das exakt gleiche Material zurück in der Arbeit an und in und mit der Sprache – und doch kristallisieren sich manchmal Einzigartigkeiten aus diesem Allgemeingut heraus. Daher war mir allerdings auch wichtig, die Anspielungen auf meine Lektüre, die mir wichtigen fremden Stimmen, nur schattenhaft und flüchtig auftauchen zu lassen. Vielleicht sind die erzeugten kleinen Begegnungen mit den von Ihnen genannten Autoren nicht viel mehr als ein Ausdruck großer Verbundenheit zu der Sprache, die ich vorfinde, und eine vorsichtige Verbeugung vor diesem Wunder, in einem Wort oder einem Satz oder einem Stil eine Person zu erkennen – als könne man durch eine gespiegelte Scheibe auf wunderliche Weise doch hindurchsehen, und den dahinterstehenden Eliot, Kafka oder Rilke sehen.

Bleiben wir kurz bei Kafka. Einem seiner Briefe an Milena Jesenská ist das Motto entnommen, mit dem sich Ihre Dichtung vielleicht auch als ein ‚längerer Brief‘ bzw. eine Flaschenpost an den Leser begreifen ließe. Zudem formulieren Sie in der programmatischen Schreibszene zu Beginn des Buches eine Poetologie des Kafkaesken als das „Aufeinanderprallen des Unzubändigenden, Wilden und dem bis ins Absurde Überstrukturierten“. Das Wort kafkaesk wurde in Anlehnung an das Wort grotesk gebildet; das Groteske ist auch zentral – etwa im Bild vom in der Sprache waltenden „Lindwurm mit offenem Rücken“. Es geht auch um die „Monstrosität der Phantasie“ selbst. Mit dem Kafkaesken und Grotesken in Sprache und Meer werden Grenzen – diejenigen zwischen Mensch und Tier, Tier und Ding, Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Ego und Alter – sowie ihre Auflösungen verhandelt. In welchem Zusammenhang steht die in diesem Rahmen aufscheinende Faszination für die Selbstvergessenheit oder auch den Selbstverlust mit der beängstigenden Sprachlosigkeit, die eine Art Schlusspointe Ihres Buches ist?

Vielleicht ist es da wie mit dem Unterschied oder Zusammenhang zwischen den Wörtern wirklich und eigentlich. Vielleicht auch wie mit dem Hund des alten Manns in Camus’ Der Fremde, den sein grimmiger Besitzer immerzu loswerden zu wollen scheint und doch innig liebt. Was den Vorzug genießt, was fasziniert, was Angst macht, was ich will, was ich nicht will, was ich will und gleichzeitig nicht will, wobei die zwei Seiten des Widerspruchs sich sogar kausal bedingen können, ist nicht sagbar. Eigentlich will ich, wenn ich im Meer schwimme, weiter und weiter und weiter hinausschwimmen, ich höre schon den Sirenengesang, alles ist Wasser und Licht, die schimmernde, wogende Wasseroberfläche, der leere, blaue Himmel, der hochstehende, hypnotisierende, weiße Lichtfleck, und je weiter ich wegschwimme vom Land, desto wahrer wird diese äußerste Reduktion. Eigentlich ist die Lust auf so eine Schönheit anziehender als alles, was ich in meinem Rücken weiß. Ich kann schwimmen. Ich besitze eine vielleicht verheerende Schwimmgabe. Ich spüre mich im Wasser und fühle mich, als hätte ich das mir zugehörige Habitat wiedergefunden. Ich will, eigentlich, nur schwimmen und davonschwimmen. In der Wirklichkeit aber fürchte ich mich ab einem gewissen Punkt vor mir, dem Wasser, dem Licht, der zunehmenden Verlassenheit – diese Begegnung ist in der Tat monströs. An dieser Grenze erinnere ich mich daran, dass ich die Grenze liebe und sie gerade deswegen nur eigentlich auflösen wollen, nicht aber wirklich überschreiten kann, denn sonst würde ich ihr ja das Begrenzende, ihre Eigenschaft, den Grund für mein Begehren nehmen. Ich schwimme zurück ans Ufer, hastiger, mit Blick auf die anderen Badenden und Strandbesucher, kleine bunte Figuren, mit Blick auf die andere Grenze, die Wasser-Land-Grenze, die so viel zahmer ist, die ich doch überschreiten kann, immer wieder und in beide Richtungen. Die Grenze, an die ich weit draußen im Meer stoße, ist grotesk, schön, aber grotesk. „Grotesk, grotesk.“, schreibt Thomas Bernhard. Für die Wirklichkeit zu absolut. Die Grenze, über die ich nun ins Land zurückgerate, vom Schwimmen zum Gehen durchs brust-, dann knie-, dann knöchelhohe Wasser übergehend, und wo ich ins Trockene gerate, selbst langsam trockne, anders bebend nun als zuvor, ist kafkaesk, ist schön und schmerzhaft und – kafkaesk. Zwischen dem Grotesken und dem Kafkaesken habe ich mir, wortlos, schwimmend, in Erinnerung gerufen, was und wie und weshalb ich schreibe. Und während ich mit der Zungenspitze noch die Sprachlosigkeit auf meinen Lippen schmecke, sie koste, mit noch tropfendem Haar, ist die Angst verebbt, ist auch das Glühen gedimmt, ist auch der Groll vergessen, schreibe ich womöglich schon wieder irgendetwas auf oder denke an jemanden oder drehe mich, glücklich, um die eigene Achse, glücklich, mich im Kreis drehen zu können, glücklich, dass geschieht, was nicht sagbar ist, und umgekehrt.

Den November haben Sie als H.C.-Artmann-Stipendiatin in Salzburg zugebracht. Eine kleine Kostprobe aus den dort entstandenen Gedichten gaben Sie am 1. Dezember 2023 bei der Poesie-Nacht im Literaturhaus Salzburg. Darunter fand sich auch eines über, zu, ja: für Georg Trakl. Ihr Gedicht schien mir getragen von einer zärtlichen Geste. Könnte man sagen, dass das lyrische Gedicht – für Sie – auch ein Akt zärtlicher Zuwendung ist, dem eine Tendenz auf Berührung über die Zeiten hinweg eignet? Ist das Gedicht eine Gabe – und in diesem speziellen Fall eine Art Gegengabe?

Ihre Formulierung „über, zu, ja: für“ scheint mir das Zärtliche des Gedichts, die Möglichkeit der Zärtlichkeit, genau einzufangen. Und wiederum zärtlich einzufangen – wie ein flatterndes Insekt, das man in der Höhle zwischen zwei gewölbten aufeinandergesetzten Händen gefangen hält für einen Augenblick. Es muss im Gedicht, das verleiht seiner Geste eine große Freiheit, nichts zurückgehalten werden. Jeder Bezug zum Anderen, jede Beziehung, jedes Begehren, jede Berührung und selbst Beschlagnahmung können hier gleichzeitig und zeitlos zum Ausdruck gebracht werden, ohne befürchten zu müssen, zum Bedrängnis zu werden. Dieser schillernden, dunklen Auffassung von Zartheit entspricht vielleicht das in Trakls Texten so häufig zu findende „Tier“. Eine Gabe, die auf die Annahme hofft, zärtlich hofft, und doch nichts zurückzuhalten braucht. Ein Guss. Und die Spur des Gusses. Denn das Gedicht bleibt. Deshalb muss das Gedicht auch ein Un-Ort sein. Die schmerzliche Zärtlichkeit des Vers-Endes „Denn bleiben ist nirgends.“ (Rilke) gipfelt vielleicht darin, dass das Bleiben im Gedicht gelingen darf und dass gleichsam das Gedicht nirgends ist. Die Wucht, mit der eine zarte Gestalt wie Trakl aufbegehrt, und sein elegischer Eigensinn, berühren mich in der Tat so sehr, dass ich nach dem Besuch des „Trakl-Hauses“ an der Salzach (sein Geburtshaus, das heute als Forschungs- und Gedenkstätte dient) und nicht zuletzt dem Anblick seines dort neben dem Fenster hängenden Selbstportraits einen Anflug von Verliebtheit empfunden habe, ein Begehren, aber auch das Bedürfnis, in Schutz zu nehmen, und die Gefahr, dass es eben hier zu einem Verfehlen kommt – davon spricht, die Zeit, den Zeitabstand, natürlich völlig missachtend, das im November in Salzburg entstandene und noch im Dezember in der Literaturzeitschrift SALZ zu lesende Gedicht Trakls Taschenuhr.

Ihre ersten Veröffentlichungen in Zeitschriften waren lyrische Gedichte. Ihr Debüt brilliert in der Prosaminiatur, die sich mal zum Essayistischen hinneigt, in der bildliche Szenen und kleine Erzählungen entbunden werden und die sich nicht selten in Aphorismen zuspitzt. Bei der Poesie-Nacht haben Sie lesend den Schwerpunkt wiederum auf die Lyrik gelegt. Und Anfang des kommenden Jahres wird eine Auswahl an Gedichten in den Zeitschriften die horen und Sinn und Form erscheinen. In welchem Verhältnis stehen für Sie Lyrik und Prosa?

Die Texte in Sprache und Meer, die in einer Kurzrezension vor einer Weile als „poésie en prose“ bezeichnet wurden, sind vielleicht im Verhältnis zu dem, was mir die Gedichte sind, Wasser. Und wenn ich zurückdenke an die Frage nach der Biologie, nach der Lehre des Lebens, und dann an die Bedeutung des Wassers in diesem Kontext denke, bestätigt sich für mich dieser Eindruck. Ich denke aber auch, der Biologie gleich wieder den Rücken zuwendend, an David Foster Wallaces Rede This Is Water. Ich denke auch an einen Vers aus Paul Celans Übertragung von Arthur Rimbauds Das trunkne Schiff: „Und über mir sei, Meer!“. Die Fließtexte in Sprache und Meer sind vielleicht, wassergleich, meergleich, ein Medium, eine Grundbedingung, ein Lebensraum, ein Lösungsmittel. Die Gedichte dagegen verstehe ich als Geschöpfe. Mein Verhältnis zu ihnen ist ein von Grund auf anderes. Welches, das erfahre ich beinah täglich, kann aber und will es auch noch nicht versuchen zu benennen – und so möglicherweise erstarren zu lassen. Bei verschiedenen Lesungen aus Sprache und Meer in der letzten Zeit hat es sich wie von selbst ergeben, beinahe als wolle die Dichtung kurz ans Land kommen, dass ich auch eine Hand voll Gedichte gelesen habe. Ganz unbestimmt überglücklich bin ich also, seit Kurzem zu wissen und wissen lassen zu dürfen, dass im kommenden Herbst im Wallstein Verlag mein erster Gedichtband unter dem Titel Die Goldwaage erscheinen wird.


Sprache und Meer von Nasima Sophia Razizadeh erschien 2023 bei Rohstoff / Matthes & Seitz Berlin. Hier finden Sie weitere Informationen zur Autorin.

Das Gespräch führte Corinna Sauter, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Germanistik der Paris Lodron Universität Salzburg. Hier finden Sie weitere Informationen.


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