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Das Bizarre verhilft uns dazu, die Welt zu verstehen

In der Tat werden keine Neuerscheinungen in Polen so sehr erwartet und es wird dann kein anderes Buch so schnell in die Hand genommen wie eines von Olga Tokarczuk. Somit will ich den treuen wie auch den zum ersten Mal nach einem Buch von Tokarczuk greifenden LeserInnen sagen, dass der Band „Die grünen Kinder“ ein neues Kapitel darstellt, wie auch eine Wiederentdeckung – des Bizarren.

© Kampa Verlag

Das letzte Buch der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, das vor ihrer Auszeichnung im Jahre 2019 erschien, war der im Jahr zuvor veröffentlichte Erzählband, der vor wenigen Wochen auf Deutsch erschien: Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten (Kampa Verlag 2020, übers. von L. Quinkenstein). Wir dürfen also dieses Buch gemeinsam mit der Nobelpreisrede Tokarczuks (Der liebevolle Erzähler, Kampa 2019, übers. von L. Palmes) als die aktuelle Stimme der Autorin verstehen.

In der Tat werden keine Neuerscheinungen in Polen so sehr erwartet und es wird dann kein anderes Buch so schnell in die Hand genommen wie eines von Tokarczuk. Somit will ich den treuen wie auch den zum ersten Mal nach einem Buch von Tokarczuk greifenden LeserInnen sagen, dass der Band Die grünen Kinder ein neues Kapitel innerhalb des Werkes von Tokarczuk darstellt wie auch eine Wiederentdeckung – des Bizarren.

Wenn wir Bizarre Geschichten lesen, erinnern wir uns an diese uralte Wahrheit – daran, was das Erzählen und somit die Literatur dem Wesen nach ist: Empathie. Es geht immer darum, ein anderes Leben zu verstehen, andere Menschen sprechen zu hören, sich anderen Schicksalen, Entscheidungen, Sehnsüchten anzunähern. Dies gilt für die Schreibenden, dies gilt für die Lesenden.

Neue Welten?

Erst nachdem dieses Buch erschienen war, wurde für mich deutlich, dass das Bizarre ein Thema des ganzen literarischen Schaffens von Tokarczuk bildet. Diese Autorin richtet ihren Blick stets auf das Andere, das Befremdende und an den Rand Gedrängte, und sie zeigt uns, dass der Hang zum Bizarren eine Grundeigenschaft des Menschlichen ist. Schon in der vierseitigen Erzählung aus dem Jahre 1987, Der Schrank, eröffnete uns Tokarczuk diese geheime, intime Welt der Andersheit, in welcher wir uns in den Bizarren Geschichten wiederfinden.

Unter diesen zehn Kurzgeschichten finden wir die Titel-Erzählung Die grünen Kinder, eine im 17. Jahrhundert spielende Reisegeschichte (ein Motiv, den man schon aus dem Debütroman Podróż ludzi księgi [Die Reise der Buchmenschen] kennt). Wir stoßen hier auf Erzählungen, die wie sehr schlichte Portraits wirken, in denen das Ungewohnte im einfachen, sogar bescheidenen Alltag auftaucht – wie Der Passagier, Eingemachtes, Nähte (eine Erzählweise, die man aus dem Band Spiel auf vielen Trommeln kennt). Es gibt hier auch Geschichten, die man kulturwissenschaftlich als posthumane Szenarien interpretieren könnte, die in den letzten Jahren das Schreiben von Tokarczuk prägten: Ein Besuch, Transfugium, Der Kalender der menschlichen Feste.

Sind aber diese Geschichten so unterschiedlich? Verkörpern deren Protagonisten so unterschiedliche Welten? Nein. Und das ist das Geniale an der Erzählweise von Tokarczuk. Der alte Mann aus den Nähten, in seiner kleinen Welt zwischen einem Wohnblock, einem Laden und einem Postamt, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Protagonistin aus Transfugium, die in einer (nahen? fernen?) Zukunft dieses Transfugium-Zentrum, einen Ort der Verwandlung und des Weiterlebens, besucht. Beide Figuren trauern – es ist in beiden Fällen eine Geschichte von einem Menschen, der das Geliebte verloren hat. Es sind zwei Geschichten über tiefste Einsamkeit, die sich nicht entpersonalisieren, stillen, heilen lassen kann, ganz einerlei, über welche Mittel und Techniken die Menschheit auch verfügt.


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