Einige Nachbemerkungen
Als ich Anfang der 1990er-Jahre begonnen habe, mich mit slowenischer Literatur und speziell mit Ivan Cankar (1876-1918) zu befassen, gab es von diesem Autor eine Handvoll Buchübersetzungen, die fast ausnahmslos alt und längst nicht mehr im Handel waren. Einige Kenner slowenischer Literatur wussten um Cankar, der einen großen Teil seines umfangreichen Werks in Wien geschrieben hatte; was es zu lesen gab, war jedoch hoffnungslos veraltet, und veraltet war auch die Darstellung des Autors, dessen Ruhm anscheinend auf einer einzigen Erzählung aus dem Jahr 1907 gründete: Der Knecht Jernej und sein Recht.

Nun, ich war nicht wenig enttäuscht, als ich Gusti Jirkus 1929 erschienene (und 1970 noch einmal aufgelegte) Übersetzung des Jernej zum ersten Mal in Händen hielt: was für ein altmodischer, sentenzhaft belehrender Stil! Da man sie mir aber nun einmal zur Lektüre empfohlen hatte, war ich neugierig, ob all das, was ich hier las, auch beim Autor so zu lesen war. Also begann ich die Übersetzung mit dem Originaltext zu vergleichen und kam so nach und nach dazu, mich selbst an Cankar zu versuchen. Es stand für mich außer Frage, dass es einen neuen Zugang zu diesem großen Autor der Moderne brauchte, meine erste eigene, 1994 beim damaligen Drava-Verlag erschienene Übersetzung Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien war somit als Intervention im Feld der Literaturvermittlung gedacht. Ich konnte damals nicht ahnen, dass 13 weitere Cankar-Bücher folgen sollten und dass meine Art, diesen Autor neu und gegen den Strich der gängigen Interpretationen zu lesen, auch Spuren in der slowenischen Cankar-Forschung hinterlassen würde.
Meinen bis 2011 bei Drava erschienenen 14 Cankar-Büchern lag nie ein Editionsplan zugrunde – auch wenn der Verlag sie schon ab dem zweiten Band als „Werkausgabe“ anpries und das Ganze ab 1998 deutlich herausgeberische Züge trug. Im vorletzten, 2008 erschienenen Band Die weiße Chrysantheme. Kritische und politische Schriften umfasst allein der editorische Apparat mit Anmerkungen und einer begleitenden Studie 85 Druckseiten. Es war einfach nötig, eine solide Einführung in Cankars Essayistik zu bieten, die von der slowenischen Literaturwissenschaft traditionell links liegengelassen wurde; aus damaliger Sicht war der Band aber auch eine Antwort auf die in Slowenien von klerikaler Seite massiv betriebene ideologische Vereinnahmung Cankars, die geradezu kulturkämpferische Züge trug und das Ziel verfolgte, aus dem deklarierten Sozialdemokraten (der Cankar bis an sein Lebensende war) eine Galionsfigur des Revisionismus zu machen.
Wie dem auch sei: Zum Gastlandauftritt Sloweniens auf der Frankfurter Buchmesse 2023 wurde keines meiner Cankar-Bücher neu aufgelegt, stattdessen erschien die zweite und letzte Übersetzung, die Gusti Jirku im Jahr 1930 veröffentlichte: Das Haus zur barmherzigen Mutter Gottes. Gegenüber dem schon Erreichten kann man diese Neuausgabe getrost als Rückschritt bezeichnen, sowohl was die Qualität der Übersetzung als auch was die Darstellung Cankars betrifft, dem man 1930 offenbar aus marktstrategischen Gründen eine quasireligiöse Auffassung vom Leiden angedichtet hatte. Schon der deutsche Titel, der verkennt, dass es sich beim Haus der Barmherzigkeit um eine real existierende Wiener Krankenanstalt handelt, weist in diese Richtung. Ganz explizit aber wird es, wenn der Verleger Fritz von Haniel in seinem Vorwort auf die „weiche traurige, slawische Art“ des Autors zu sprechen kommt und das Buch sodann als eine dieser „seltsam zarten dichterischen Schöpfungen“ bezeichnet, „die gar nicht dazu geschaffen sind, in starre, tote Schriftzeichen gegossen zu werden und den Weg trivialisierender Verbreitung zu gehen“. Der Unsinn dieser Zeilen wäre kaum der Rede wert, hätte der Verlag nicht zensurierend in den Text eingegriffen und ganze Seiten gestrichen, namentlich dort, wo der Text in brutaler Offenheit vom Missbrauch und der sexuellen Ausbeutung von Kindern handelt.
Dass zum Gastlandauftritt der verstümmelte und entstellte Text aus dem Jahr 1930 hervorgeholt und gleichsam als State of the Art präsentiert wurde (und zwar ohne den leisesten Hinweis auf die bestehende Werkausgabe) ließ es dringlich erscheinen, meine eigene, längst vergriffene Übersetzung, die 1996 unter dem Titel Das Haus der Barmherzigkeit erschienen war, bei einem anderen Verlag neu aufzulegen. Allerdings fiel mir beim Wiederlesen nach fast dreißig Jahren auf, dass ich heute doch sehr vieles anders machen würde: Der Stil erschien mir an vielen Stellen zu gewollt und gekünstelt, manche Formulierung unnötig vertrackt, die Sprache unökonomisch – auch wenn es seinerzeit wichtig und richtig war, den Text ganz nah an der originalen Syntax zu übersetzen und dafür manche sprachliche Eigenwilligkeit in Kauf zu nehmen, dazu stehe ich bis heute! Sowohl meine Erfahrung als auch die übersetzerischen Standards sind aber mittlerweile höher anzusetzen. Vor allem erkannte ich, dass ich eine halbwegs adäquate Wirkung mit den vor dreißig Jahren angewandten sprachlichen Mitteln gar nicht mehr erreichen kann: Was 1996 noch modern und nahe klang, wirkt heute museal und veraltet. Ich entschied mich deshalb für eine Neuübersetzung, die im Herbst 2024 zusammen mit der Neuübersetzung des Romans Frau Judit in der schönen Edition Meerauge des Verlags Heyn in einem Band erschien. Sie ist noch immer sehr nah am Originaltext, unterscheidet sich aber maßgeblich im sprachlichen Gestus, im Bemühen um eine kommunikativere, direktere und klarere Diktion sowie in der Reduktion sprachlicher Redundanzen und historischer Manierismen. Vielleicht ist es gelungen, „den Cankar“ für die heutige Zeit zu erschaffen, auf jeden Fall wird die Übersetzung die nächsten dreißig Jahre „halten“ müssen, und ich bin zuversichtlich, dass es mit den Neu- und auch Erstübersetzungen, die noch in Planung sind, gelingen wird, Cankar erneut und in aktueller Weise zu positionieren. Weltliteraten wie Cankar, deren Werke man nicht auslesen kann, verlangen von Zeit zu Zeit einfach einen neuen Zugang.
Dasselbe gilt aber auch für Autoren, die, aus welchen Gründen auch immer, bei uns übersehen oder vergessen wurden. Ein solcher Autor ist Slavko Grum (1901-1949), dessen literarisches Werk seit 2023 ebenfalls bei Heyn in einer zweibändigen Edition vorliegt. Die Vermittlungssituation ist eine ganz andere wie bei Cankar, weil es bis nach der Jahrtausendwende keine einzige Grum-Übersetzung auf Deutsch zu lesen gab und der Name deshalb bei uns auch keinerlei Klang hatte. 2006 gelang es mir, Christian Thanhäuser für die Herausgabe der gesammelten Prosa zu gewinnen, die in einer bibliophilen, mit Holzschnitten des Verlegers versehenen Paperback-Ausgabe in der Edition Thanhäuser erschien. Das Buch wurde durchaus wahrgenommen, ein Rezensent schrieb (es konnte fast nicht ausbleiben) vom „slowenischen Franz Kafka“ – was natürlich Unsinn ist, denn es galt ja, einen bis dato nicht übersetzten Autor kennenzulernen und nicht einen Vergleich in den Raum zu stellen, der den Weg zu diesem Autor schon wieder verbaut. Es stimmt aber, dass Grum, den die slowenische Literaturgeschichte dem literarischen Expressionismus zugeschlagen hat, ein literarischer Einzelgänger war, dessen Literatur stark existenzialistische, ans Surreale reichende Züge aufweist.

Zu Lebzeiten von der literarischen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, trat der Autor Ende der 1920er Jahre mit seinem Stück Das Ereignis in der Stadt Goga kurzzeitig aus der literarischen Anonymität. Es gelang ihm jedoch nie, sich als Theaterautor zu etablieren oder auch nur einen Verlag für seine Prosa zu finden. Karriere machte er als Arzt (er bekleidete in der Zwischenkriegszeit einen Chefarztposten), nach der Okkupation Jugoslawiens durch die Achsenmächte ergab er sich seiner (aus der Studienzeit in Wien datierenden) Drogensucht, an der er viel zu früh zugrunde ging. Die literarische Öffentlichkeit überantwortete ihn dem Vergessen, erst posthum wurde seine Bedeutung als Autor erkannt. Sein 1929 entstandenes Stück vom Ereignis in der Stadt Goga, in dem erstmals in der slowenischen Literatur simultane Bühnenbilder verwendet werden, gilt bis heute als eines der besten slowenischen Theaterstücke; nach Grum ist der bedeutendste slowenische Dramenpreis benannt.
Es gibt nicht viele slowenische Autoren, deren literarisches Werk in seiner Gesamtheit in deutscher Übersetzung vorliegt, schon deshalb lohnt sich die Lektüre. Grum steht für eine Zeit, die außerordentlich reich an literarischen Ansätzen und Positionen war, die für uns aus Mangel an Übersetzungen aber ziemlich im Dunkeln geblieben ist. Eine gewisse Abhilfe schafft die 2023 bei Heyn erschienene Anthologie slowenischer Kurzprosa der Zwischenkriegszeit Die Raupe, die eine Reihe von Namen enthält, die auch Lesern slowenischer Literatur nicht geläufig sind, und die viel historischen Kontext vermittelt. Als Übersetzer kann ich sagen, dass es eine schöne und spannende Aufgabe ist, solche Schätze zu heben, und ich hoffe, es wird eine ebenso spannende Erfahrung sein, sie als Leser in angemessenem Licht zu betrachten.
Erwin Köstler ist vielfach ausgezeichneter Übersetzer und Literaturwissenschaftler, er lebt in Wien. Für seine Cankar-Übersetzungen wurde er 1999 mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen ausgezeichnet. Für seine langjährige und erfolgreiche Vermittlungstätigkeit wurde ihm 2024 eine Verdienstmedaille der Republik Slowenien verliehen. Am 6. März 2025 stellte er bei einem Literaturfrühstück seine Arbeit als Übersetzer anhand der beiden Autoren Slavko Grum und Ivan Cankar vor, am Abend sprach Erwin Köstler auf Einladung des Vereins prolit über den slowenischen Autor Vitomil Zupan (1914–1987) und dessen hoch aktuellen Roman Levitan.