Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte meines Romans Radieschen-Revolution
Was tun, wenn einem das Leben eine Steilvorlage liefert und man kein Fußballer ist? Trotzdem verwandeln? Diese Frage stellte ich mir nach einem erschöpfenden, erleuchtenden, beglückenden und frustrierenden Jahr auf einer zunächst sehr schlammigen Wiese, die ich 2020 mit einem Dutzend Gleichgesinnter gepachtet hatte, um darauf einen Gemeinschaftsgarten zu errichten. Das in der Corona-Zeit gestartete Projekt entwickelte binnen kürzester Zeit enorme emotionale Strahlkraft. Immer wieder stießen vor allem junge Familien zu der wacker konzeptionierenden, schaufelnden, zimmernden Truppe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, bald eigenes Gemüse, eigene Kräuter zu ziehen und im Rahmen der Möglichkeiten auch etwas für die Biodiversität zu tun. Binnen weniger Monate etablierten wir nicht nur eine funktionierende Infrastruktur, sondern gründeten auch einen Verein, der rasch auf 40 Mitglieder anwuchs. Getragen von allgemeinem Wohlwollen lebten wir ein Jahr lang in dem Bewusstsein, etwas ganz Neues, Ungewöhnliches geschaffen zu haben.
Doch der Zauber des Anfangs währte nicht lange; bald schon wuchsen die Eifersuchtskartoffeln und die Mieselsuchtmelisse begann zu wuchern. In der Folge entwickelten sich Konflikte, in denen ich als Autor dramaturgisches Potential erkannte. Da ich während der Entstehung des Gartens Tagebuch geführt hatte, stellte ich mir die Frage, ob aus diesem Stoff nicht ein Roman zu machen sei, allein: ich war kein Fußballer, ich wusste nicht, wie man verwandelte, denn in meinen bisherigen Büchern war es nie um ein konkretes Geschehnis in der Gegenwart gegangen. In Ziegelbrennen zum Beispiel hatte ich mehrere Handlungsstränge, die sich durch Jahrzehnte mitteleuropäischer Geschichte hindurchwanden, so miteinander verzopft, dass ein formal anspruchsvolles Flechtwerk entstanden war. Und nun hatte ich einen Stoff, der danach verlangte, ganz im Hier und Jetzt gehalten, ganz entlang der Befindlichkeiten einer speziellen sozialen Gruppe entwickelt zu werden.
Nach und nach begriff ich, dass ich mein Thema nur zu fassen vermochte, wenn ich mit allem bisher Erzählten brach. Dazu brauchte ich eine neue Sprache, denn am Anfang eines Schreibprozesses steht bei mir nie die Handlung, stehen nie die Figuren, sondern ein bestimmter Ton, aus dem sich alles andere ergibt. Ich musste mich freimachen von meinem zeitgeschichtlich-historischen Bewusstsein, das schwer auf meinen bisherigen Büchern gelastet hatte. Das Grüblerisch-Ernsthafte von Ziegelbrennen oder Unerhörte Nachrichten war aber zunächst nicht aus meinem Stil hinauszudrängen. Ich verstand, dass ich den leichteren, ironischen Ton, den ich anstrebte, nur dadurch erreichen konnte, indem ich mich selbst überlistete: Gerd, eine der beiden Erzählfiguren von Radieschen-Revolution, nahm erst plastische Gestalt an, als ich ihn als den verkopften Schreibtischmenschen darstellte, der ich manchmal selbst bin. Um meinen Helden gar nicht erst in die Versuchung zu führen, sich mit Vergangenem zu beschäftigen, stellte ich ihm Elfi zur Seite, eine Art von dauerplauderndem Engel mit reichlich Launen und Flausen, der ganz in der Gegenwart lebt. Elfi ist es auch, die ihren Freund Gerd dazu bringt, sich einmal mit etwas anderem zu beschäftigen als mit seinen „Dateien“, in denen er ständig „sprachliches Unkraut rupfen“ will. Sie mietet spontan ein Beet in einem Gemeinschaftsgarten, wo ihr Lebensgefährte mit Verwunderung bemerkt, dass er einen grünen Daumen hat. Bald fühlt er sich dort so wohl, dass er, ohne es recht zu wollen, zu einem wesentlichen Teil der Geschichte wird, die sich rund um ihn herum entspinnt. Als er und Elfi von einer intriganten Nachbarin aus dem Garten hinausgeworfen werden, beschließen sie, eine eigene kleine grüne Utopie um die Ecke zu gründen.
Schon nach den ersten Seiten bemerkte ich, dass dieses Grundkonzept aufgehen konnte, dass es mir nicht schwerfallen würde, eine Art „Wipperspektive“ zu schaffen, in der sich die beiden Erzählfiguren immer und immer wieder abwechselten. Es lag nahe, Elfi ihre verspielten inneren Monologe in der Ich-Perspektive führen zu lassen und das Präsens dafür zu benutzen; Gerd, der viel distanzierter an die Dinge herangeht, verlangte nach der dritten Person Präteritum. Als die beiden schön zu schaukeln begannen, musste ich mich langsam mit der Dramaturgie auseinandersetzen. Sie wie bisher zum Teil formal anzulegen, kam nicht infrage; also entschied ich mich für einen Spannungsaufbau, der durch das Verhältnis der Aktivisten zueinander, das sich ständig verändern würde, entstehen sollte.
Diesbezüglich hatte mir die Wirklichkeit einiges an Anregungen geboten, aber verwendbar war dies nur zum Teil, denn die Realität funktioniert nun einmal anderes als ein Roman, die Realität ist meistens nicht halb so aufregend und anstrengend und ereignisreich – und sie erzählt in der Regel auch nicht eine einzige konsistente Geschichte, sondern viele kleine, die nicht oder nur zum Teil miteinander in Verbindung stehen. Ich musste also weglassen, straffen, verändern und vor allem dazuerfinden, um die Handlung schlüssig zu machen, was mir am Anfang nicht leichtfiel. Immer wieder drängten sich Bilder und Figuren aus der Wirklichkeit in das fiktive Szenario, ohne dass ich es recht bemerkt hätte. Erst als mich meine Lektorin darauf hinwies, dass ihr die Handlung manchmal sprunghaft vorkomme und sie das Verhalten einiger Protagonist:innen nicht schlüssig nachvollziehen könne, wurde es besser – die Figuren erlangten größere Selbständigkeit, sie begannen auch dann zur Schaufel zu greifen, wenn dies in der Realität nicht geschehen war. Meine Erzählpflanze nährte sich zwar noch von der Wurzel der Wirklichkeit, aber sie trieb bereits kräftig in Richtung Fiktion aus und entwickelte nicht wenige tragfähige narrative Äste, die sich nachfolgend dicht belaubten. Bald stand all das, was ich in der Wirklichkeit erlebt hatte, vollkommen in ihrem Schatten. Schnell wurde das Manuskript nun nachdrücklicher, intensiver, bildhafter und damit realer als meine Erinnerungen, ja selbst als die erwähnten Tagebucheinträge. Irgendwann war es nicht mehr nötig, auf Notizen zurückzugreifen, um eine Szene zu gestalten oder die Handlung vorantreiben zu können. Der Erzählbaum gewann eine umfängliche Gestalt, die in der Wirklichkeit kaum jemals zu finden ist, denn wie schon gesagt: In der Realität gibt es keine konsistenten Geschichten, die Realität ist oft chaotisch, verwirrend und sinnlos, was unserm Bedürfnis nach Verstehbarkeit, nach Ordnung und Sicherheit zuwiderläuft. Vielleicht sind Romane nichts anderes als der Versuch, ein wenig Struktur zu schaffen, sich ein wenig von der Unberechenbarkeit der Welt zu distanzieren, um ihr eine Bedeutung abringen zu können, die sie gar nicht hat.
In dem Moment also, wo das Erzählen wirklicher wurde als die Realität, wusste ich, dass die Geschichte zu einem plausiblen Ende finden würde. Zudem entwickelte sich aus Elfis Perspektive heraus auf ganz selbstverständliche Weise eine Art von reflexiver Ebene: Als Dramaturgin an einem kleinen Theater hat sie ein berufliches Umfeld, das sich nach und nach ebenfalls mit dem Gartenprojekt zu beschäftigen beginnt. Dadurch entsteht eine Art Außensicht auf die Arbeit der Aktivist:innen, die wiederum von deren theatraler (und in der weiteren Folge medialer) Rezeption beeinflusst wird.
Aber zurück zu dem Gemeinschaftsgarten, den ich tatsächlich mit angelegt habe. Wenn ich dort am Jäten bin, treffe ich alle möglichen Leute, niemals aber Figuren aus Radieschen-Revolution, niemals plaudere ich mit Elfi, Gerd oder anderen Protagonist:innen aus dem Roman. Sie haben ihr Projekt zwar gleich neben dem unseren gestartet, dann aber damit begonnen, ihre Ackerfurchen in Form von Zeilen über Papier zu ziehen. Und ihre Geschichte geht nach nur zwölf Monaten oder 250 Seiten auch schon wieder zu Ende, während das reale Projekt sich Jahr für Jahr unablässig weitererzählt; unablässig gehen kleine Storys von Mund zu Mund und fügen sich durch Interpretation zu einem neuen Narrativ, das Elfi und Gerd nicht zu interessieren braucht. Sie können beruhigt die Spaten wegstellen und sich ausruhen – als Teil einer wahren Geschichte, die ich nur deshalb erzählen konnte, weil es mir gelungen war, sie zu erfinden.
Die Romane Ziegelbrennen, Unerhörte Nachrichten und Radieschen-Revolution von Christian Lorenz Müller sind im Otto Müller Verlag erschienen. Alle Informationen zum Autor und den Büchern finden Sie hier.
Christian Lorenz Müller präsentiert seinen neuen Roman Radieschen-Revolution am 14. Oktober 2024 auf Einladung des Literaturforums Leselampe im Literaturhaus Salzburg. Hier finden Sie alle Informationen zur Veranstaltung.