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im schönsten Fall Geschichten

Unsichtbare Wände

So kühl, klar und nüchtern wie wenige Schriftsteller*innen erzählt Marlen Haushofer von sichtbaren und unsichtbaren Wänden, vom Schweigen, von den Abgründen. Und sie macht auf schmerzliche Art bewusst, wie notwendig Kommunikation, Begegnung und das Gespräch für das Überleben der Menschen sind.

Zum 100. Geburtstag von Marlen Haushofer (1920–1970)

„Stell Dir vor, Du bist von einem Moment auf den anderen durch eine Glaswand von Deiner Umgebung isoliert: So geschieht es der Erzählerin, die nur mal einen Ausflug in die österreichischen Alpen unternehmen wollte.“ Der Literaturkritiker Denis Scheck setzte in seiner Sendung „Druckfrisch“ Ende März Marlen Haushofers 1963 erschienenen Roman „Die Wand“ auf Platz 1 seiner Liste der „Top 10 Bücher zur Krise“.

Das Cover der Erstausgabe, erschienen 1963 bei Sigbert Mohn (Gütersloh)

Tatsächlich verblüfft die Aktualität und Brisanz von Marlen Haushofers Hauptwerk im Corona-Ausnahmezustand und so kann ich nur hoffen, dass die Wahl von Denis Scheck die Buchauflage steigert. Denn der Verlag Ullstein konnte sich nicht einmal im Jahr des 100. Geburtstagsjubiläums zu einer Werkausgabe seiner Autorin entschließen. Im Erscheinungsjahr rief das Buch wenig Begeisterung hervor, erst mit der Neuauflage 1983 begann seine Erfolgsgeschichte. Es ist in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und die Verfilmung von Julian Pölsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle erhöhte 2012 nochmals die Aufmerksamkeit.

In der feministischen Robinsonade berichtet eine namenlose Ich-Erzählerin von ihrem Überleben in einer Gebirgsregion. Über Nacht ist eine durchsichtige Wand entstanden, die als unüberwindbare Grenze die Protagonistin von der übrigen Welt trennt, in der jegliches Leben mit Ausnahme der Pflanzen erstarrt ist. Fernab von der Zivilisation sucht sie mit ihrem Jagdhund Luchs, einer Katze und einer trächtigen Kuh in und mit der Natur ihr Leben zu organisieren, bis eines Tages ein überlebender Mann auf der Alm das Kalb und ihren Hund tötet und darauf von ihr erschossen wird. Das Ende des verstörenden Romans bleibt offen: Der Bericht bricht ab, weil kein Blatt Papier mehr übriggeblieben ist.

Einzigartig an dem Roman ist die kongeniale Verknüpfung einer realistischen Geschichte mit einer utopischen Science-Fiction Anordnung, der gläsernen Wand. Die Landschaft, die Pflanzen und Tiere beschreibt die Autorin kenntnisreich, aber sie vermeidet eine konkrete Verortung. Deshalb weist der Text über seine realen Räume und Zeiten hinaus und kann immer wieder neu gelesen und interpretiert werden wie eben in einer Zeit, die den Abstand zwischen Menschen und die Isolierung des Einzelnen zur Überlebensnotwendigkeit erklärt.

Marlen Haushofer selbst hat in einem Interview auf die Frage nach der Bedeutung des Bildes gesagt:

Die Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird. Haben wir nicht überall Wände aufgerichtet?  (…) Man sitzt rund um einen Tisch und ist – so viele Menschen, so viele Wände – weit, sehr weit voneinander entfernt.

Da heute Plexiglaswände gerade zum konkreten Inventar von Räumen werden, lesen sich auch diese Zeilen wie ein Kommentar zu den gesellschaftlichen Veränderungen.

© List Verlag

In Haushofers Erzählungen und Romanen zählen reale und metaphorische Wände zu den zentralen Motiven. Ihre Heldinnen sind eingesperrt in ihre privaten Zimmer und fühlen sich als Gäste in ihren eigenen „vier Wänden“, sie sind isoliert und zugleich abgeschieden vom öffentlichen Leben. Titel wie „Die Tapetentür“ und „Die Mansarde“ verweisen auf die Beschränkungen weiblicher Lebensräume. Die Frauen suchen sich verzweifelt in den familiären Ordnungen einzurichten in der Ambivalenz von Geborgenheit und Gefangenschaft zwischen „goldenem Käfig“ und „Kerker“ wie die Ich-Erzählerin in der Novelle „Wir töten Stella“, die wegschaut und weghört und damit auch zur Mittäterin am Mord einer jungen Frau wird.

So kühl, klar und nüchtern wie wenige Schriftsteller*innen erzählt Marlen Haushofer von sichtbaren und unsichtbaren Wänden, vom Schweigen, von den Abgründen. Und sie macht auf schmerzliche Art bewusst, wie notwendig Kommunikation, Begegnung und das Gespräch für das Überleben der Menschen sind.

Christa Gürtler, Salzburg


Christa Gürtler wird am 1. Oktober 2020 im Literaturhaus Salzburg ein Literaturfrühstück zu Marlen Haushofer gestalten, veranstaltet vom Literaturforum Leselampe.


Literaturhinweise:

Marlen Haushofer: Die Wand. Berlin 2017; Marlen Haushofer: Die Mansarde. Berlin 2019; Marlen Haushofer: Die Tapetentür.; Marlen Haushofer: Das fünfte Jahr. Wir töten Stella. Novellen. Berlin 2012; Marlen Haushofer: Der gute Bruder Ulrich. Märchen-Trilogie. Innsbruck 2020; Daniela Strigl: „Wahrscheinlich bin ich verrückt…“. Marlen Haushofer – die Biographie. Berlin 2012 [vergriffen]; „Ich möchte wissen, wo ich hingekommen bin!“. Marlen Haushofer 1920–1970. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus. Hrsg. v. Christa Gürtler. Linz 2010 [vergriffen].

Außerdem können Sie im Online-Lexikon „Stichwörter zur oberösterreichischen Literaturgeschichte“ (betreut vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich) Einträge zur Biografie Marlen Haushofers und zum Roman „Die Wand“ nachlesen.


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