Vorabdruck aus dem neuen Buch UEAU. Verrutschungen von Zsuzsanna Gahse, das im Herbst 2025 in der Edition Korrespondenzen erscheinen wird:
Der Schauspieler Anton ist mit seinem Kollegen Oskar unterwegs, um sich im Bodenseeraum nach Sprachen umzuhören, sie bereiten sich nämlich auf eine Aufführung vor, deren Kernthema die Sprache selbst ist.
Antons Notizbuch
18.3.25
Zunächst werden wir über Pilze reden, über Myzelien.
Seit einer Weile sehen wir Sprachen als Pilzstrukturen, was sich später ändern könnte, weil aber im Augenblick diese Überlegung gilt, stehen bei uns Pilzgerichte hoch im Kurs. Am Seerücken fanden wir vor einigen Tagen Schirmlinge, jetzt lassen wir uns mit der Fähre an die Nordseite vom Bodensee nach Meersburg übersetzen und suchen auf der Schwäbischen Alb weiter. Von einer Bekannten wissen wir, dass die Steinpilze dieses Jahr in Hechingen förmlich aus dem Boden schießen.
Um bei den Sprachen mit den Pilzbetrachtungen weiterzukommen, schlagen wir in einigen Lexika nach und suchen das Wurzelwerk einzelner Wörter. Schon das kleine, meist unbeachtete, aufmüpfig auftauchende aber zeigt eine überraschende Herkunft. Aber ist die Steigerung von ab, von weg, also weiter weg. Theoretisch könnte auch aberst in Frage kommen, dann wäre etwas noch weiter entfernt.
Die Herkunftsgeschichten hätten wir bei Oskar oder bei mir zu Hause nachschlagen oder im Internet suchen können. Oder! Auch nach oder könnten wir so fahnden, aber, aber wir haben uns diesmal für die Unibibliothek in Konstanz entschieden.
Anstandshalber haben wir die Fahndung mit dem Wort Bibliothek angefangen, dann folgten Apotheke und Videothek. Thek und Theke sind deutlich hörbare Verbindungsstücke, Nestwörter, mit denen wir schwindelerregend vorangekommen sind, und möglich ist, dass sogar setzen, stellen, legen zu diesem Wortnest gehören. Wir sehen weiter.
Jedenfalls spaziert die Sprache durch die Köpfe, und dabei lacht sie zwischendurch. Am besten gefällt mir die Vorstellung, dass die Sprache lacht.
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Zunächst waren wir am Flughafen Zürich, um Passagiere und die sie abholenden Personen bei ihren Gesprächen zu hören, gewissermaßen abzuhören, eventuell einige Wörter, die sich in den Gesprächen herausschälten, zu notieren und den Tonverlauf aufzuzeichnen. Die längste Zeit haben wir in der Ankunftshalle verbracht. Aber auch bei den Taxiständen mit den abfahrenden Gästen und den Gesprächen der lungernden Chauffeure konnten wir Wörter heraussieben. Ansonsten blieben wir neben Paaren und kleineren Gruppen stehen, um einige Wörter aufzuschnappen. Mit slawischen Partikeln war das relativ einfach. Nach einer Weile sagen die Leute, aus welchem Land sie auch kommen, potom und može. Potom heißt dann, dann, dann, und može heißt in etwa mag sein, vielleicht.
Oskar zeichnet den Satzverlauf auf, ob nämlich die Stimme innerhalb eines Satzes auf und ab hüpft oder wie sie sich sonst verhält. Für Griechisch hat er gestern eine gerade, leicht abfallende Linie gezogen.
Sobald wir auf der Bühne sind, beschäftigen sich unsere Mimen, das grüne Team, mit den Atemübungen, mit Keuchen und Pusten, und erst, nachdem wir von den Pilzen gesprochen haben, erzählen wir von den am Flughafen aufgeschnappten potom und može.
Sie gehören zu den slawischen Pilzstrukturen.
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Wieder sind wir mit dem Schiff unterwegs, wiegend, wir könnten von der Atmung des Wassers reden, der atmende See wiegt uns. Bisher hatten wir Zwischenlandungen in Meersburg, Friedrichshafen, dann in Arbon und Kreuzlingen, und deutlich war, dass die Dialekte verschieden schnell gesprochen werden. Es überrascht uns nicht mehr, dass die Klangfarbe am Bodensee zwischen Nord- und Südufer wechselt, jetzt nehmen wir eher die Tempounterschiede wahr. Natürlich hat jede Person eine eigene Geschwindigkeit, die aber vom örtlichen Tempo mitbestimmt wird.
Leicht gespenstisch nimmt sich in Friedrichshafen bei der Fährstation die Sprache der Schweizer Besucher aus, zum Beispiel der Singsang der St. Galler. Dieser fliegend hohe Klang ist an sich harmlos, wirkt aber im Gegensatz zum tieferen Ton am Nordufer ein wenig unheimlich oder zumindest erstaunlich. Solche Unterschiede haben ihren Reiz, beziehungsweise sind sie aufreizend. Kleine Feindbilder sind nicht ausgeschlossen, heimliche Vorstellungen von Duellen auch nicht.
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In Friedrichshafen saßen wir mit einigen Jugendlichen an einer Theke, neben mir ein Italiener, der immer lachend sprach. Er erzählte, dass er bei einem Motorradunfall am Oberkiefer vier Zähne verloren habe, ein guter Ersatz sei schon in Aussicht, sagte er, als sei der Schaden bloß ein Witz, nur müsse er jetzt ein Provisorium tragen, das am Gaumen befestigt wird. Kommt alles bald in Ordnung, sagte er, aber im Augenblick sei es schwer, Deutsch zu reden. Er suchte nach Wörtern mit dr und tr, drei, drücken und trocken sagte er, und während er die Musterwörter vorführte hatte er hörbar Mühe mit der Zunge. Dann hob er lachend hervor, dass er auf Italienisch kaum Probleme habe.
Die kleine Gruppe ging nach einer Weile in einen italienischen Klub, wo es einmal im Monat besondere Gerichte gibt.
Wir blieben an der Theke. Theke, sagte Oskar, to take, und er begann, Take five zu singen.
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Herein kommt die Sprache, sie betritt die Bühne. Wie sieht sie aus? Sie hat Zähne und mal eine breite, große, mal eine schmale, spitze, bewegliche Zunge, vor der Zunge schürzen und dehnen sich die Lippen. Mitunter ist der Gaumen zu erkennen. Dahinter die unsichtbare Kehle.
Besser wäre es, gleich zu Beginn zwei Sprachen antreten zu lassen, meint Oskar. Zweimal die Zahnreihen, die Zungen in ihrer Beweglichkeit, und vorne an der Front zwei verschiedene Lippenpaare.
Erstaunlich sind die unterschiedlichen Mundformen. Breite, gepolsterte Lippen, gleich daneben kleine rote Lippen.
Deine kleinen roten Lippen, singt Oskar, Salome also.
Aber wie betritt die Sprache die Bühne? Als riesiger Kopf, nichts als Kopf? Oder sind Hals und Brustkorb dabei?
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