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Reif für die Insel? – Die wunderbaren Tiere von Stranalandia

Der Bologneser Schriftsteller Stefano Benni, in Italien bekannt als Verfasser satirischer Erzählungen und als Kolumnist der dissidenten kommunistischen Tageszeitung „Il manifesto“, hat gemeinsam mit dem Zeichner Pirro Cuniberti 1984 die Dokumentation der Entdeckung Stranalandias in den Druck gebracht, einer der Weltöffentlichkeit bis dato kaum bekannten Insel.

Vom wissenschaftsgeschichtlichen Skandal zur literarischen Wunderkammer

Als sich der schiffbrüchige Robinson Crusoe als einziger Überlebender an Land rettet, ist seine erste Sorge, auf dem noch unbekannten Eiland einen Tisch und einen Stuhl aufzustellen. Von diesen ersten Einrichtungsgegenständen aus würde sich alles Übrige ergeben, die wilde Umwelt sich kultivieren lassen. Was aber, wenn eine terra incognita sich den europäischen Neuankömmlingen als bereits bestens eingerichtet erweist?

Der Bologneser Schriftsteller Stefano Benni, in Italien bekannt als Verfasser satirischer Erzählungen und als Kolumnist der dissidenten kommunistischen Tageszeitung Il manifesto, hat gemeinsam mit dem Zeichner Pirro Cuniberti 1984 die Dokumentation der Entdeckung Stranalandias in den Druck gebracht, einer der Weltöffentlichkeit bis dato kaum bekannten Insel. Der Band mit dem vielversprechenden Titel I meravigliosi animali di Stranalandia (Die wunderbaren Tiere von Stranalandia) versammelt Text-, Bild- und Kartenmaterial aus dem legendären Tagebuch der schottischen Wissenschaftler Achilles Kunbertus und Stephen Lupus.

Kunbertus und Lupus konnten sich im Jahr 1906 als einzige Überlebende von einem Expeditionsschiff retten, das in einem Jahrhundertunwetter südlich von Kap Hoorn Schiffbruch erlitt. In langen Tagen und Nächten auf See, aneinandergekauert auf einem großen Schreibtisch aus Nussholz, mit Linealen als Ruder und Radiergummi als Nahrung trotzten die Gelehrten den unwirtlichen Bedingungen und erreichten schließlich Land. Sie tauften die Insel, auf die es sie verschlagen hatte, Stranalandia, weil sich ihnen die märchenhaftesten, aber auch eigenartigsten Pflanzen und Tiere entdeckten, die sie je gesehen hatten: „Nichts auf dieser Insel ähnelte dem, was bislang in der Zoologie, der Botanik, ja selbst in der Biologie und traditionellen Chemie erforscht und verzeichnet worden war.“ Drei Jahre verbrachten die Forscher auf Stranalandia, fertigten detaillierte Aufzeichnungen an und schlossen Freundschaft mit dem einzigen Ureinwohner Osvaldo. Ein zumindest seinem Namen nach unerwarteter Ausbruch des Vulkans Nonnopera (‚arbeitet nicht‘) schleuderte die beiden, versteckt im nusshölzernen Schreibtisch, kilometerhoch in die Luft und weit – bis nach Buenos Aires, wo sie in der Aula Magna der naturwissenschaftlichen Fakultät durchs Dach brachen und vor der anwesenden Zuhörerschaft erstmals von ihren Erlebnissen in einer improvisierten Vorlesung berichteten. In der akademischen Welt entbrannte daraufhin ein erbitterter Streit um die Echtheit der Berichte, der in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung unter dem Namen questione Kunbertus-Lupus firmiert. Die ursprünglich in drei Bänden edierten Aufzeichnungen der beiden Wissenschaftler wurden bereits kurz nach ihrem Erscheinen 1923 von offizieller Seite als wissenschafts- und jugendgefährdend eingezogen. An der vorausgegangenen Verleumdungskampagne gegen Kunbertus und Lupus sollen maßgebliche Wirtschaftskapitäne und Großkonzerne beteiligt gewesen sein, die sich durch die Veröffentlichung in ihrem Interesse an der Ausbeutung neuer Überseeterritorien gestört fühlten. Dank Cuniberti und Benni, der auch unter dem Spitznamen Lupo bekannt ist, sind die Ergebnisse dieser ungeplanten wie unwahrscheinlichen Forschungsreise seit 1984 wieder zugänglich.

Cervo pomellato

Es wäre nun ein tristes Unterfangen, festzustellen, dass es sich bei dem illustrierten Büchlein um eine literarische Herausgeberfiktion handelt. Alles nur erfunden… Statt eine solche literarische Gattungsklassifikation zu treffen, will ich lieber auf ganz andere Klassifikationen hinweisen. Nach einem Prolog, der die Geschichte von Kunbertus und Lupus erzählt, und neben Tafeln, die Sprache, Alphabet, Zahlensystem und Sagenwelt von Stranalandia vorstellen, werden Seite für Seite die kunterbunten Lebewesen, die Stranalandia bevölkern, in detaillierten Beschreibungen und Zeichnungen nach Gattung und Art wissenschaftlich verzeichnet. Dieses laboratorio della fantasia della natura hält allerhand Überraschungen bereit vom Avis Presley – die wissenschaftliche Bezeichnung für einen Vogel, der seine Rockballaden mit Gitarre und Lichtershow begleitet – über den Pavarotto – der in den Nächten die ganze Insel mit sehnsuchtsvoll geschmetterten Liebesarien wachhält – bis zum Gattacielo (‚Wolkenkatzer‘), einer Mischung aus Hauskatze und Hochhaus. Dieses Bestiarium fordert unsere eingeschliffenen Vorstellungen davon, was ein Tier sei und könne, heraus. Die Bewohner der Insel stehen quer und indifferent zu herkömmlichen Einteilungen auf Basis speziesistischer Grundannahmen. Selbst Unterscheidungen wie jene zwischen Tier, Werkzeug und Möbelstück sind für die europäischen Wissenschaftler nicht säuberlich zu treffen. Das zeigt sich an den Scarafaggi riparatutto – Kakerlaken in Werkzeugform, die Schäden auf der Insel unkompliziert und rasch beheben – ebenso wie am Gru da Cucina – einem Hybrid aus Laufvogel und Küchengerätschaften – oder am stets übelgelaunten Cervo pomellato (‚beknaufter Hirsch‘), der sich als praktischer Kleiderständer durch potenziell hilfreiche Funktionalität auszeichnet, ohne dass von Vornherein zu sagen gewesen wäre, für wen eigentlich. Kunbertus und Lupus jedenfalls finden eine zugleich gastfreundliche und zum Allerbesten eingerichtete Welt vor.

Uccello gelataio

Ihr historisches Verdienst ist es, nicht dem unbeugsamen Klassifizierungswillen einer Forschung gefolgt zu sein, die ihre Kategorien immer schon von vornherein festgelegt hat. Wenn man sich auf eine terra incognita einlässt, eröffnet sich womöglich unversehens eine lebendige literarische Wunderkammer, „wo alles so eigenartig ist, dass einem nichts mehr eigenartig vorkommt“. Aber wer weiß: „Chi lo sa. Benvenuti a Stranalandia!“ – Und spätestens beim Anblick des Uccello gelataio (ein ‚Eisvogel‘ der besonderen Art) ist der Sommer nicht mehr weit.

Thomas Assinger, Presseggersee


© Feltrinelli

Literaturhinweise:

I meravigliosi animali di Stranalandia. Testi di Stefano Benni, Disegni di Pirro Cuniberti. Milano: Feltrinelli 1984. (Deutsche Übersetzung der Zitate von Thomas Assinger)

www.stefanobenni.it

Mehrere Bücher Stefano Bennis in deutscher Übersetzung sind im Verlag Klaus Wagenbach erschienen.

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