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auf alle Fälle Texte

Letzte Kunst. Eine Handvoll sehr kurzer Geschichten.

Manchmal wird mir klar, dass das, wovon ich schreiben will, alle anderen schon seit jeher wissen.

Prolog

Manchmal wird mir klar, dass das, wovon ich schreiben will, alle anderen schon seit jeher wissen. Jeder Baum weiß es, jeder Baum in der Dämmerung, und Baum für Baum, die sich den Abhang hinab vom Haus zum See aneinanderreihen. Jeder Vogel weiß es und der See mit seiner unbewegt im schwachen Licht spiegelnden Oberfläche. In jedem schlechten oder wunderbaren Gedicht oder Roman, in jedem Lächeln und jeder Berührung ist es zu lesen. Niemand hat je etwas anderes gesagt, seit ein paar tausend Jahren, aber ich habe es erst jetzt begriffen oder bin erst jetzt dabei, es zu begreifen. Und muss nichts anderes tun, als den Stoff, den ich vor mir habe, zu reinigen. Alles abzuschaben, was überflüssig ist.
Bis jeder Satz nur noch das bestätigt, was alle wissen, Baum und See und Haus, Gedicht und Roman nicht mehr da sind, der Körper, der ihnen Ruhe gab, das Glitzern und Blühen, das Lächeln und die Berührung. Bis nur noch dasteht, was alle wissen oder gewusst haben; aber an einem Ort, den es bisher nicht gab.
Es ist kein Verdienst, diesen Ort erfunden zu haben, zufällig bewohne ich diesen Ort.


Lektion

In jeder Stadt, in der man ankommt, in der Bahnhofsunterführung in die falsche Richtung gehen und dort, auf der anderen Seite der Stadt das Zentrum suchen und es auch finden.

Anne Carson: „Would that be like waking from a dream and finding yourself on the back side of your own mind?“


Sommer in Berlin

Eine dickliche blonde Frau im blauen T-Shirt steht im Autobus der Linie 200 an der Tür. Auf den Oberarm hat sie eine dünne blonde Frau im blauen Trägerkleid tätowiert, möglicherweise eine Japanerin mit gefärbten Haaren. Die dickliche blonde Frau schaut misstrauisch um sich; sie ist keine Japanerin, und ihre Haare sind nicht gefärbt.
Wir beobachten sie länger und warten ab. Die dünne Japanerin, die stillhält, die dickliche Frau, die an der Station Mollstraße sehr plötzlich, so als müsste sie flüchten, aus dem Bus steigt und gleich nicht mehr zu sehen ist.


Kunst

Wir fanden Zuflucht in einem weiten braunen Acker, der als „die Galerie“ bezeichnet wurde. Unter einem Himmel wie ein Tischtuch lagen die schweren ovalen Steine, sie waren so groß wie ein Hühnerei, aber etwas schlanker, perfekt geformt. Man konnte die Steine brechen; im Innern stieß man unter einer Schicht von schwarzem Sand auf einen kleineren, sehr leichten eiförmigen Stein, der dem großen exakt gleichsah. Die Anweisung lautete: Der Betrachter muss ins Gravitationsfeld treten und mit Gravitationskraft schreiben.
Auffällig ist die Leere zwischen den Steinen. Anderen Raum gibt es nicht.


Möglichkeit eines Geständnisses

Der Gedanke, einmal etwas von meinen wirklichen Vorstellungen und Gedanken aufzuschreiben. Endlich etwas zu schreiben anstelle von dem, was ich schreibe. Knapp daneben und plötzlich ehrlich; nicht mehr nur „Literatur“ und deshalb wirklich Literatur. Zum Beispiel:
[.. … …… …… ….
………………………. …………… ………. …. ……………
……, … ……… .. …….; ……… … ………. …….. …… …
.. …….. …. …… … —-]


Lager am Waldrand (Die Wahrheit)

Alina beugte sich zu mir.
Wenn du die größeren Insekten isst, sagte sie, dann übernimmst du ihre ganze Schwere. Du musst sie natürlich als Ganzes essen, ihre Köpfe und Panzer, ihre Bäuche und Beine. Dann übernimmst du ihre ganze Schwere und Traurigkeit. Im ersten Moment schmeckt es nach reifen Früchten, ein wenig süßlich, nach überreifen Früchten. Aber dann – dann weißt du…
Sie schaute mich an mit ungewöhnlich hellen und klaren Augen. Diesen strahlenden Augen, und ich wartete darauf, dass es endlich vorbeiginge.
Doch sie zeigte nach vorne, in Richtung des Waldes. Die Hunde schüttelten ihre wolligen Körper. Die hundegroßen Tiere, die uns vorangingen.
Ich will nicht wissen.


Unmöglichkeit eines Geständnisses

[- … ………… ……. ….
.. ……. …………; … ……….. ………. ……. ….
……. ………. …. …….
……………. …. …; …. ……… …….. —–]
Dezentes Knapp-Vorbeihören.
– Das ist aber interessant! Eine ganz neue, phantastische Seite.


Ein Autor

– Alles ist lächerlich, was in mir drin ist, sagte der Autor. Deshalb hole ich es raus.
Wir erschraken vor seiner schlaffen leeren Hülle, und alles war gut.

Thomas Stangl, Wien


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