Kategorien
im schönsten Fall Geschichten

Karl Kraus und das Radio

Karl Kraus (1874–1936), dessen 150. Geburtstag im Jahr 2024 begangen worden ist, kennt man als Sprach- und Zeitkritiker mit seiner Zeitschrift „Die Fackel“, als Verfasser des monumentalen Antikriegsdramas „Die letzten Tage der Menschheit“ sowie als aufmerksamen Beobachter des aufkommenden und etablierten Nationalsozialismus. Weniger bekannt ist Kraus indes als jemand, der sich ab Mitte der 1920er Jahre mit dem Radio auseinandergesetzt und auch selbst Beiträge für dieses Medium gestaltet hat.

Karl Kraus (1874–1936), dessen 150. Geburtstag im Jahr 2024 begangen worden ist, kennt man als Sprach- und Zeitkritiker mit seiner Zeitschrift Die Fackel, als Verfasser des monumentalen Antikriegsdramas Die letzten Tage der Menschheit sowie als aufmerksamen Beobachter des aufkommenden und etablierten Nationalsozialismus, insbesondere in seiner erst postum erschienenen Dritten Walpurgisnacht. Weniger bekannt ist Kraus indes als jemand, der sich ab Mitte der 1920er Jahre wiederholt mit dem Radio auseinandergesetzt und Anfang der 1930er Jahre auch selbst Beiträge für dieses Medium gestaltet hat. Diesen Spuren will der vorliegende Beitrag nachgehen, der auf einem Literaturfrühstück im Literaturhaus Salzburg basiert.

Den Einstieg machen Die Raben:

Klicken Sie auf die Schallplatte, um das Tonbeispiel zu hören.

Zu hören ist hier eine Aufnahme der lyrischen Rede der Raben aus Kraus’ Letzten Tagen der Menschheit. Die Einspielung gehört zu einem Konvolut von Schallplatten, das die Berliner Produktionsfirma Die Neue Truppe gemeinsam mit Kraus im Jahr 1930 herstellt; noch im August dieses Jahres strahlt der Berliner Rundfunk die Aufzeichnung der Raben aus, wie wir aufgrund der Dokumentation in Kraus’ Zeitschrift Die Fackel wissen. Für uns sind solche Schallplattenproduktionen ein Glücksfall, weil das frühe Radio in starkem Maße ein reines Live-Medium gewesen ist. Durch die Schallplatten bekommen wir einen Eindruck von Kraus’ Stimme, die uns heute so sonderbar fremd und irritierend ertönt. Doch schon für seine Zeitgenoss:innen hat Kraus’ Sprechweise eigentümlich aus der Zeit gefallen geklungen: Denn Kraus bleibt dem Burgtheaterdeutsch des 19. Jahrhunderts und mithin einem stark von der Deklamation geprägten (das heißt, einem sehr eigenwilligen, expressiven, für unsere heutigen Ohren üblicherweise überzogen anmutenden) Stil verbunden, der bereits in den frühen 1930er Jahren nicht mehr state of the art gewesen ist. Kraus’ Re-Installation einer offensichtlich überkommenen Burgtheater-Tradition hängt dabei mit einer bestimmten Vorstellung des (akustischen) Zitierens zusammen, dem am Versammeln prägnanter ‚Tonfälle‘ wie auch an der „Totenbeschwörung“ (K. Krolop) einer verflossenen Theaterkultur gelegen ist. Kraus reaktiviert die Stimmen des alten Burgtheaters in seinen Rundfunkbeiträgen gewissermaßen und verleiht ihnen somit eine gespenstische (Nach-)Präsenz im Äther.

Zu einer kurzen Mediengeschichte der Stimme sowie zu Kraus’ polemischem Verhältnis gegenüber dem Radio ist im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Literaturfrühstück zu hören:

Seine frühe Ablehnung des neuen Mediums Radio hält Kraus freilich nicht davon ab, in den Jahren 1930 bis 1933 selbst für das Radio tätig zu sein, wobei seine Projekte in diesem Zusammenhang äußerst vielseitig sind: Wir wissen von ausgestrahlten Vorlesungen beziehungsweise Aufzeichnungen eigener Schriften, aber auch von der Gestaltung von und Bearbeitung für beziehungsweise der Mitwirkung an Sendungen mit Texten von William Shakespeare, Johann Wolfgang Goethe, Johann Nestroy, Ferdinand Raimund, Jacques Offenbach und Gerhart Hauptmann. Leider haben wir von Kraus’ Radiobeiträgen nur auszugsweise Aufnahmen vorliegen.

Quelle: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=raw&datum=19311002&seite=3&zoom=33

Eines der spannendsten Beispiele wird im Mai 1931 von der Funk-Stunde Berlin ausgestrahlt: Kraus liest ausgewählte Szenen des ersten Aufzuges von Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind mit Klavierbegleitung. Die Aufnahmen werden nachfolgend auch auf Schallplatte vertrieben. Kraus wiederholt diese Vorlesung im selben Jahr für Radio Wien – das ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens ergibt sich damit die erstmalige Zusammenarbeit von Kraus mit dem Sender, den er sonst eher mit Verachtung straft, und zweitens veröffentlicht die gleichnamige illustrierte Wochenzeitschrift Radio Wien als Nachtrag zur Wiener Radio-Aufführung auf der Titelseite eine Photographie von Kraus vor dem Studiomikrophon. Die Zeitschrift liefert damit das Bild zur sonst gleichsam körper- und gesichtslos gewordenen Stimme des Vorlesers Kraus. Eine dritte Aufführung findet im Folgejahr, 1932, im Arbeiterfunk von Radio Prag statt – darin zeichnet sich auch Kraus’ in dieser Hinsicht sicherlich sozialdemokratisch geprägtes Interesse an Bildungseinrichtungen für Arbeiter:innen ab. Innerhalb seines Œuvres ist Der Alpenkönig und der Menschenfeind aber auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil Kraus aus Raimunds Drama bereits seit 1914 regelmäßig vor Publikum vorgetragen hat.

Auf YouTube kann die Schallplattenaufnahme von Kraus’ auszugsweiser Darbietung abgerufen werden:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Das Beispiel zeigt die Vielseitigkeit des Sprechers Kraus. So hören wir etwa, wie Kraus Haupt- und Nebentext stimmlich markiert: Den Nebentext liest er leiser und zurückhaltender, manchmal beinahe unhörbar; die Figurenrede selbst dagegen trägt er stark prononciert, streckenweise geradezu pathetisch vor. Hier wird das Spektrum von Kraus’ Variationen und die Wiedererkennbarkeit seiner Stimmeinsätze deutlich. Kraus kann aufgrund dieser beachtlichen stimmlichen Modulationsfähigkeit auch auf die fortwährende Nennung der Figurennamen verzichten. Regieanweisungen streicht er ebenfalls großzügig, insbesondere dort, wo sie keinen Mehrwert für eine Radioaufführung bringen. Außerdem ist Kraus als Sänger zu erleben – bemerkenswert ist nicht zuletzt, wie er die Passagen des Chors im Stück übernimmt.  

Die Theaterkonzeption, die Kraus in den späten 1920er Jahren vorschwebt, ist stark vom Hören und vom Wort respektive der Sprache geprägt. Das prädestiniert ihn geradezu für den Rundfunk. Bereits 1916 allerdings notiert Kraus – auch in Abgrenzung von Max Reinhardts ‚pompöser‘ Theaterpraxis – grundsätzliche Überlegungen für ein „dekorationsfreies Shakespeare-Theater“, die im Lauf der 1920er Jahre in das sogenannte „Theater der Dichtung“ münden werden. Dieses Theater der Dichtung ist als Vortragsreihe für Kraus’ alleinige Darbietung dramatischer Texte gedacht. Es favorisiert „eine Literatur, die das Hören selbst als Mittel der Täuschung, Illusionsbildung und Anreizung der Imagination einsetzt […] und dem Sehen das Primat entzieht“ (A. Schäfer). Insofern das Theater der Dichtung auf Stimme und Wort – und nicht auf Bild oder Kulisse – gerichtet ist, findet es in Kraus’ Rundfunkbeiträgen gewissermaßen seine Erfüllung. Die Funk-Stunde Berlin muss Kraus, der seiner Selbstbezeichnung nach gleichermaßen „Stimmenimitator“ wie „Hellhörer von Stimmen“ ist, daher optimale Bedingungen geboten haben.

Das Jahr 1933 wird dann jedoch für Kraus zur Zäsur, und zwar auch mit Blick auf seine Radioauftritte. Als besonders einschneidend nimmt er das Verbot Offenbachs im deutschen Rundfunk wahr. Dementsprechend bezieht sich Kraus in der Dritten Walpurgisnacht dann auch auf seine eigenen Radioarbeiten zurück: Es sei schließlich ausgemacht, „daß der deutsche Rundfunk in zwanzig völkischen Jahrgängen der Nation nicht das Entzücken ersetzen wird, das er ihr in zweien durch den Offenbach-Zyklus gewährt hat“. Spätestens mit der umgreifenden Medienpropaganda des nationalsozialistischen Regimes erscheint der Rundfunk (erneut und noch viel drastischer als je zuvor) als korrumpiertes Medium, das dann auch mit neuer Dringlichkeit zum Gegenstand der Kraus’schen Kritik wird. Als Distributionsgelegenheit für sein Werk kann das Radio für Kraus folglich keine Option mehr sein. Kraus im Volksempfänger, das wäre allerdings ohnehin unvorstellbar gewesen.


© Springer Verlag

Thomas Traupmann war am 5. Dezember 2024 auf Einladung des Literaturforum Leselampe im Literaturhaus Salzburg zu Gast und gestaltete das Literaturfrühstück Stimmenauftritte. Karl Kraus und das Radio.

Hinweis zur vertiefenden Lektüre zum Thema:

Traupmann, Thomas: Radiosendungen. In: Prager, Katharina / Ganahl, Simon (Hg.): Karl-Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2022, S. 221–231. Informationen zum Buch finden Sie hier.


Beitrag teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert