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im schönsten Fall Geschichten

Jean Améry in Salzburg. Ein Nachruf

In der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober 1978 nahm sich der Schriftsteller Jean Améry das Leben – in einem Salzburger Hotel. Geboren am 31. Oktober 1912 in Wien, verbrachte er seine Kindheit im Salzkammergut. Sein ganzes Leben lang besuchte der in Wien, Berlin, Paris und schließlich viele Jahre in Brüssel lebende Autor immer wieder diese Landschaft.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober 1978 nahm sich der Schriftsteller Jean Améry das Leben – in einem Salzburger Hotel. Geboren am 31. Oktober 1912 in Wien, verbrachte er seine Kindheit im Salzkammergut. Sein ganzes Leben lang besuchte der in Wien, Berlin, Paris und schließlich viele Jahre in Brüssel lebende Autor immer wieder diese Landschaft.

Im Hotelzimmer hinterließ er vier Briefe mit dem Datum 16. Oktober. Er schrieb an die Hotelleitung mit einer Entschuldigung für die „Ärgerlichkeiten“ und einer Bitte, seine Frau telefonisch zu informieren. Er schrieb an die Salzburger Polizei: „Ich, Unterzeichneter Hans Maier (genannt Jean Améry), Schriftsteller, Wohnhaft in Brüssel, 56 Ave. Coghen, erkläre hiermit, dass ich mir im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, den Tod gebe.“ Er schrieb auch an Hubert Arbogast, seinen Verleger – entschuldigt sich, weil er seine Veröffentlichungspläne und Versprechungen nicht einhalten wird. Es schmerzt ihn, die Menschen, mit denen er in schriftstellerischer Arbeit verbunden ist, und die gemeinsamen Pläne aufzugeben: „Wie traurig, dass es nun endigt. Ich scheide wehen Herzens, weiß aber, dass ich es nicht ändern kann. Ich hielt mich aufrecht, solange die Kräfte reichten. Jetzt schwinden sie, so muss ich gehen.“ Der letzte Brief ist an seine Frau Maria Maier-Améry:

Geliebtes Herzilili, ich bin auf dem Weg ins Freie. Es ist nicht leicht, aber dennoch die Erlösung. Denke, wenn Du kannst, nicht mit Groll an mich und nicht mit allzu qualvollem Schmerz. Du weißt alles, was ich Dir zu sagen habe: dass ich Dich unendlich liebe und dass Du das letzte Bild bist, das vor meinen Augen steht. 

Fast zwei Jahre davor beendete er die intensive Arbeit am Buch Hand an sich legen, das war schon nach seinem ersten Suizid-Versuch. In dem Buch erklärte er seine Stellungnahme zum Freitod. Sein Suizid soll demnach eine Selbstbestätigung eines erkrankten und leidenden, aber bis zum Ende über sich bestimmenden Menschen sein. Der berühmte Satz von Améry wirkt in unserer gegenwärtigen Reflexion nach: „Der Freitod ist ein Privileg des Humanen“. Und jedoch: Im Gästebuch des Hotels hatte er sich mit seinem verworfenen deutschen Namen eingetragen – Hans Maier. Warum? Der Name! Diese Zuschreibung, aber noch viel mehr diese Selbstbezeichnung – das war für Jean Améry schon immer ein Thema.

Geboren als Hanns Mayer, als Schriftsteller zuerst unter dem Namen „Hans Maier“ bekannt, verwarf er in den 50ern seinen deutschsprachigen Namen, weil er damit einen Neubeginn seiner Existenz markieren wollte: seines Lebens nach dem Krieg, seines Lebens in Belgien und im französischen Sprachraum. „Jean Améry“, ein Anagramm von „Hans Mayer“, war aber später nicht mehr nur sein Pseudonym, sondern ein in Belgien anerkannter Name. Es war also Jean Améry, der Auschwitz-Überlebende und Autor des autobiographischen Buches Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966), im Herbst 1978 auf einer seiner zahlreichen Lesereisen durch Deutschland. So kam er nach Salzburg – unterwegs zu Begegnungen. Warum wählte er für sein Ende diesen Ort und den alten Namen?

Das Leben von Jean Améry war durch einige solcher Schritte – symbolische Entscheidungen? – gekennzeichnet, wie schon sein Austritt aus dem Judentum im Jahre 1933 und sein Wiedereintritt im Jahre 1937 – aus Solidarität, als Protest gegen die Unterdrückung und Verfolgung der Juden. Viele Jahre später wird er sich in seinem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? daran erinnern, wie er im Dezember 1938, auf der Flucht nach Antwerpen, seine Heimatlandschaft vor Augen hatte:

Es ging durch die winternächtliche Eifel auf Schmugglerwegen nach Belgien, dessen Zöllner und Gendarmen uns einen legalen Grenzübertritt verwehrt haben würden, denn wir kamen ohne Paß und Visum, ohne alle rechtsgültige staatsbürgerliche Identität, als Flüchtlinge ins Land. Es war ein langer Weg durch die Nacht. Der Schnee lag kniehoch, die schwarzen Tannen sahen nicht anders aus als ihre Schwestern in der Heimat, aber es waren schon belgische Tannen, wir wußten, daß sie uns nicht haben wollen.

Wenn wir heute diese Zeilen lesen, denken wir nicht, dass sie nur die Vergangenheit betreffen: alle Vertriebenen könnten Ähnliches berichten. Auch Améry schrieb über diese sich wiederholende Geschichte von Flüchtenden – im Essay Die ewig Unerwünschten (1967). 

Vielleicht ist dies der Grund, warum unter den Tausenden Seiten seines Nachlasses mich selbst am meisten die kleinformatigen Fotos berühren, die dieser junge Mann auf den Wanderungen durchs Zillertal gemacht hat, ein paar Jahre, bevor er aus Österreich flüchten wird müssen. Und dann gibt es die Fotos von ihm im Salzkammergut – in Bad Ischl und im Mondseeland, wieder ab den 50er-Jahren. Die Wiederkehr, die Sehnsucht, die Freude – alles bildet sich hier ab. Deswegen stellt sich mir die Frage: Warum nennt er sich wieder Hans Maier? Aus behördlichen Gründen? Das wäre nicht nötig gewesen. Vielleicht also, weil es tatsächlich sein wahrer Name war? Die Identität eines Menschen, der verfolgt, gefoltert und in mehrere Konzentrationslager verbracht wurde? Diese Fragen kommen auf uns zu, aber wir verstehen, dass wir kein Recht auf eine Erklärung haben. Diese Antwort muss genügen: Es war ein Mensch in seiner Unabhängigkeit, auf seinem eigenen Weg – und wie jeder andere Mensch mit einer Spur Geheimnis.


Zitationen:

Wieviel Heimat braucht der Mensch?, in: Werke, B. 1, Stuttgart 2007, S. 86.  

Ausgewählte Briefe: 1945-1978, in: Werke, B. 9, Stuttgart 2007, S. 597, 599, 600.


Małgorzata Bogaczyk-Vormayr ist polnische Philosophin, lebt im Land Salzburg, lehrt Ethik an der Universität Posen, Universität Innsbruck und an der Akademie der Bildenden Künste in München.


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Eine Antwort auf „Jean Améry in Salzburg. Ein Nachruf“

Danke für den Arikel über Jean Améry. Ich habe 1990 im Auftrag der Grazer Autorenversammlung Texte von 21 Autoren in der etition roetzer herausgegeben unter dem Titel: Selbstmord und Schriftstellerexistenz.
Über Jean Améry habe ich leider keinen Text erhalten – ich danke, dass mir jetzt mehr beleuchtet wurde als im Jahr 1978 als mir ein Pressefotograph den unwürdigen Abtransport des Dichters schilderte: eingerollt mit dem immer Zimmer liegenden Teppich unauffällig auf einem Servierwagen bis zum Hinterausgang des Hotels.

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