Ich stelle mir vor: August, Margrit und die Kinder gehen über einen steilen, schmalen Steg auf das Schiff. Sie drehen sich nicht um, sie gehen langsam, aber gleichmäßig vorwärts, weil auch vor und hinter ihnen Leute gleichmäßig, aber langsam über den gleichen Steg und weitere Stege an Bord gehen. Das Schiff heißt SS Rochambeau, nach einem Franzosen, der in einem amerikanischen Krieg eine Armee – es war alles längst transatlantisch verwickelt.
Ich stelle mir August und Margrit auf dem Steg vor, wie sie gehen, je einen Koffer an der Hand, auch die Kinder. Sie gehen der Größe nach, und ich halte mich hier an Tatsachen, das heißt, vorne geht Margrit, mit ihren eins achtundsiebzig eine große Frau, vielleicht war sie einmal über eins achtzig, vielleicht haben sie das Alter und die Arbeit und die ausgetragenen Kinder bereits gekürzt. Margrit ist keine Bohnenstange, kein Hungerhaken, sie ist eine stattliche Frau, zehn Kilo schwerer als ihr Mann, sie hat starke Arme und Beine, große, weiche Brüste, einen schönen, runden Hintern, aber den ahnt man nur unter den Kleidern.
August, der hinter ihr geht, weiß was unter ihren Kleidern ist. Das, was man ohne Kleider tut, hat immer gut funktioniert zwischen den beiden. Die sechs Kinder sind der lebendige Beweis dafür. Auch August ist kein kleiner Mann, nur zwei Zentimeter kleiner als seine Frau. Vielleicht hat sein Bauch schon zu wachsen begonnen, wie er das oft tut bei Männern, wenn sie älter werden, aber noch ist er kein alter Mann, auch kein junger mehr, August ist Vater, Auswanderer. Was er in diesem Moment sagen würde, dass es sein Beruf ist, weiß ich nicht. Die Dokumente, die ich gefunden habe, sagen später Dairyman, Milchproduktemann. In meiner Vorstellung irrlichtert das zwischen Bauer, Melker und Käser.
Hinter Margrit und August gehen die Kinder: August der Sohn ist sechzehn. Vielleicht müsste ich die Reihenfolge noch einmal ändern auf dem Steg, vielleicht überragt er seine Eltern. Ich weiß nicht wie groß August der Sohn war oder wurde. Was er wurde, das weiß ich: Bauer, Farmer. Ein Dokument über ein Wegerecht sagt, dass er a single man blieb, sein Totenschein bestätigt das 1991: never married.
Hinter August geht 1923 Johann. Auf dem Steg ist er zwölf. Wenn er in New York wieder festes Land unter den Füssen hat, ist er dreizehn. Wahrscheinlich können wir ihn an seinem Platz belassen. Er ist noch ein Kind, es dauert noch ein, zwei Jahre, bis ein Wachstumsschub aus ihm einen gangly boy macht und als es so weit ist, heißt er John. Die Briefe unterzeichnet er auch drei Jahrzehnte später noch mit Hans.
Hinter dem zukünftigen John geht Otto. Er ist elf und der Einzige, der noch einmal zurückkehrt nach Europa. Es wird ein kurzer Besuch sein, irgendwann in den 1960ern, und er wird einige Erzählungen, die August der Vater auf liniertem Briefpapier über den Ozean geschickt hatte, gerade zu rücken versuchen. Es wird vor allem um seine Mutter gehen. Margaret wird da schon mehr als zehn Jahre tot sein.
Walter ist genau ein Jahr minus vier Tage jünger als Otto vor ihm, also zehn. Wäre der Steg breiter, könnten sie wahrscheinlich nebeneinander gehen, sind fast gleich groß. Aber Otto besteht auf den dreihunderteinundsechzig Tagen zwischen ihnen und geht voran. Ihre Koffer sind etwas kleiner. Beide haben deutliche Bilder und Erinnerungen dabei, die sie, wie die Sprache, nicht verlieren werden. Im Gegensatz zu den beiden kleinen hinter ihnen.
Hinter Walter kommt Werner. Wo das William, das hinter seinem Namen irgendwann auftaucht, herkommt, weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich das selbst gegeben. 1923 hatte er es noch nicht dabei. Auf dem Steg ist Werner ohne William noch nicht ganz vier. Es wäre sinnvoll, wenn Walter ihm die Hand geben würde. Ich nehme an, dass so ein Steg furchteinflößend ist für einen fast vierjährigen.
Ganz zum Schluss kommt Edwin, aber weil Edwin erst zehn Monate alt ist, kann er noch nicht allein über den Steg gehen, die ganze Ordnung kommt durcheinander.
Also noch einmal: Edwin sitzt auf Margrits Hüfte und es gefällt ihm dort, die Brüste, aus denen er Milch trinkt, sind in Reichweite, Margrit riecht, wie sie riechen soll, und das ganze drumherum, der Steg und die Menschen, das interessiert ihn nicht. Vielleicht spürt er die Nervosität. Vielleicht zappelt er und Margrit hat Mühe ihn zu halten. Vielleicht verschläft er alles. Vielleicht hat Margrit auch noch den zweitjüngsten an der Hand, Werner, weil so ein Steg für einen fast vierjährigen wirklich furchteinflößend ist. August der Vater trägt zwei Koffer, weil Margrit beide Hände voll hat. Hans, Otto und Walter sind groß genug, um eigene Koffer zu tragen, wenn auch etwas Kleinere. Und ganz hinten geht nun der sechzehnjährige August, auch er trägt zwei Koffer, weil er groß genug ist, weil jemand die Sachen für die beiden kleinsten tragen muss.
Es ist schwer zu sagen, sowieso aus einer Distanz von über hundert Jahren, ob in seinem Gesicht Abenteuerlust zu sehen ist, wie das angeblich bei seinem Vater der Fall war. Ob sich Abenteuerlust mit roten Backen zeigt, ob da Angst ist vor dem was kommt, oder ein Herzschmerz über das, was er zurücklassen muss. Vielleicht ist er verliebt. Mit sechzehn verliebt man sich leicht. Vielleicht versteckt er unordentlichere Gefühle hinter einem genervt-gelangweilten Teenager-Gesicht.
Vielleicht hat er sich geschworen, wiederzukommen, sobald er alt genug ist. Vielleicht will er in Erfahrung bringen, wie er mit seiner Arbeitskraft seine Überfahrt zurück nach Europa bezahlen kann. Vielleicht hat er einer Agnes oder einem Josef versprochen, dass er wiederkommt, ein Versprechen, das er nicht halten wird, aber das weiß er auf dem Steg noch nicht.
5.5.25/mb
Auf Einladung von Literaturforum Leselampe und Literaturfest Salzburg stellt Mariann Bühler im Rahmen der Veranstaltung Twinni – Texte zum Teilen Leben und Werk der Schweizer Autorin Verena Stefan (1947-2017) vor. Das Format Twinni schenkt auch bereits verstorbenen Autorinnen und ihrem Schreiben Aufmerksamkeit: Presenterinnen, selbst Autorinnen, stellen jeweils eine Autorin vor und laden ein, Texte und Persönlichkeiten (neu) zu entdecken, gemeinsam zu lesen und darüber zu sprechen. Hier finden Sie alle Informationen zur Veranstaltung.
Außerdem liest Mariann Bühler beim Literaturfest Salzburg aus ihrem Debütroman Verschiebung im Gestein, der 2024 im Atlantis Verlag erschienen ist. Hier finden Sie alle Informationen zur Autorin und zur Lesung.