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auf alle Fälle Texte

Ich hab mein Herz in Heidelberg

Die Gedichte von Ursula Krechel „sind dynamische Gegenwart. Sie sind wach, hellwach, selbst dort, wo man nur mit geschlossenen Augen sieht: ins Dunkle, ins Ungewisse, in Abgründe, in Schichten persönlicher wie kollektiver Erinnerung. In vielfältigen Formen und in einem breiten Register der Stimmen, Rhythmen und Töne untersuchen diese Gedichte Wirklichkeit, ohne sich darauf einen Reim machen zu wollen. Es sind Erkundungen mit offenem Eingang und offenem Ausgang, eigenwillig, voller Wagemut und Spielfreude.“ [1]

Hier lesen Sie drei Gedichte von Ursula Krechel, die demnächst im Band Beileibe und Zumute im Jung und Jung Verlag erscheinen.


Gibt es einen Einwand, der vergessen worden ist?

Der Denkende kommt zu spät, wenn er sagt: Ich denke
dachte ich, oder das Denken hat ihm einen Streich gespielt

den er schlecht pariert, hoffnungslose Rückständigkeit
der Sinne, die Kunstgenuss ermöglichen, Glücksempfinden

dichtet den Raum ab, Wände, die haushoch überlegen
Baumgruppen, Gräben, Dornengestrüpp, Zischelwind –

Bist du allein? Jähes Schweigen, das wie eine Sprache ist
die er nicht hört. Zöglingsfrage, huschender Schatten

der den Schädel streift, besser: Hirn ohne Schädel. War
das ein Machen oder etwas Liegengebliebenes, aufgehoben

von wem (und sorgsam verwahrt)? Erinnerungsverlängerung
Dialektik des Aufhebens: Etwas existiert, wo es nicht war.


Was Schönheit ist zu was

Die Schönheit wird wie ein Beben sein,
oder sie wird nicht sein.

André Breton: Nadja

Wie sich Stadtplan zu Stadt verhält
Text zu Sprache, Krankenwagen
zu Rettung, Seil zu Absperrung
Linie des lebendigen Haares zu

Perückenkopf, Kuss zu Liebe zu –
Stillstand, in dem der Atem stockt
weht ein Wind, das Haar verwirbelt
puppenhaft, frei aus der Luft gegriffen

Lederbälge, an denen lose Köpfe baumeln
Dinge verdorren, wenn man sie lässt.
Lässt man sie sprechen, vibrieren sie
ergeben sich dem gefügigen Ohr

kein Tropfen läuft über: Oberflächen=
Spannung, Verdunstung, Verdichtung
Stimme, die spricht und nicht zittert
gezügeltes Hauchen, Mündeln, Singeln

entfachte Strophen mit Skrupeln infiziert
örtliche Linie der Zeile, eine zeitliche Linie
des Sprechens, Ausrufezeichen: Bete an
wer kann, was rettungslos ergeben nicht

von einer Husche überrascht und regungslos
machtlos mit zerzaustem Haar, immerdar
verwirrt, verirrt nicht. Schönheit eine Projektion
Beben in ergreifender Müdigkeit. Gerettet.
Bedroht.


Wörter geschehen

Das Wort hat im Prinzip dieselbe Chemie wie diejenige, derer es dazu bedarf, die Kristallisationsprozesse in Gang zu setzen.

Inger Christensen: Die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz

Ich hab mein Herz in Heidelberg ich
hab mein Herz im Kleiderschrank ich hab
das Bett noch nicht verbrannt mein Hut
geht bis zum Mantelkragen der Krug
geht übern Brunnenrand es bricht das Licht
mein Hut geht durch das ganze Land
es tut nicht weh in Heidelberg es schneit
so weit und breit du siehst wir sehen
nächtlich die Hand vor Augen nicht
sie sehen Hand und Fuß und Hut
das Rosenrot das Schornsteinschwarz
der Zufall hat sich eingestellt und wenn
Sonnen aufgehn und der Schlossberg glüht
bedenke man vielleicht auch nicht
viel Worte machen eine Handvoll doch
beschenken Flügel zwischen Sprachen
nachtschattenlos hatte ich mein Herz
an manchen Zwerg gehangen mitgefangen
und mit Stangen aus dem Fluss gefischt
an manchem Zweig erschüttern Blätter nicht
was frisch ist und was nicht geschenkt
entgrätet habe ich mein Fischblutherz
sanft ist das dünngeküsste Fühlen und
das Unkrautzupfen mechanische Bewegung
wie große Walzen die sich drehen
in Heidelberg man dichtet nicht man hat
das Herz in Heidelberg auch auf der Zunge
und im Leib ohne Schlacken hirnverbrannt
oder besser nicht ohne Hand und Fuß
der Fluss liebreizend trudelt er weiter
nicht so die Trauerweiden streifend
wie in Tübingen allein die Schmetterlinge
Dichter kommen mit umwölkten Stirnen
und fliehen in Scharen und Bücher werden
aufgeschlagen ein Bett auf Sand gebaut
die Erde hat sich aufgetan in einem Spalt
ein Herz ist krank beim fünften Glockenschlag
mein Hut geht durch das ganze Land
hab in der Welt leidlich nur ihn verstanden
hast du den Hut doch sehr galant verschwiegen
an einen Haken ihren Hut im Haar hat sie
versteckt acht Kugeln sind vorbeigefegt
es tut nicht weh in Heidelberg es schneit
so weit so breit du siehst wir sehen Blut
die Hand vor Augen nicht die Hand
ist weiß so wie der Schnee gewaschen ist
keine Hand kein Bett in Heidelberg am Fluss
nur Lumpenzeugs im Kleiderschrank
das trägt so weit so gut so lang
ein’ feste Burg ist unser Gott so lang
sein Wort in Heidelberg bewahrt
mein Hut geht durch die Bibliothek
das ganze Land ihr seht nicht mehr
die Hand vor Augen sie sehen Hand
und Fuß und Bein und eine Handvoll noch
von Worten in Heidelberg im Schnee
die Spur hab ich verloren nicht.


© Jung und Jung Verlag

Der Gedichtband Beileibe und Zumute erscheint am 26. Februar 2021 im Jung und Jung Verlag.

Bitte kaufen Sie Bücher in Ihrer lokalen Buchhandlung.

[1] www.jungundjung.at


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