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Gedankenkette

Nein, ich schreibe heute nicht über Camus’ „Die Pest“ und auch nicht über Boccaccios „Decamerone“ und schon gar nicht über Poes „Die Maske des Roten Todes“; die gehen mir, so großartig sie auch sind, in Zeiten von Corona und Lockdown zu nahe und zu sehr unter die Haut. In Krisenzeiten mag man Ablenkung.

Nein, ich schreibe heute nicht über Camus’ Die Pest und auch nicht über Boccaccios Decamerone und schon gar nicht über Poes Die Maske des Roten Todes; die gehen mir, so großartig sie auch sind, in Zeiten von Corona und Lockdown zu nahe und zu sehr unter die Haut. In Krisenzeiten mag man Ablenkung. Schauen Sie sich nur die Filme der NS- und Nachkriegszeit an mit ihrem Heile-Welt-Gestus und dem unvermeidlichen Happy End! Heute braucht man schon einen eisernen Willen, eine große Portion Durchhaltevermögen, viel Geschichtswissen und eine Menge Hochprozentiges, um jene Machwerke bis zur letzten Filmminute durchzustehen; aber zu ihrer Zeit waren sie geeignet (und offenbar äußerst gefragt und überaus erfolgreich), von der tristen Wirklichkeit wenigstens für eineinhalb Stunden abzulenken.

Nein, ich schreibe jetzt nicht über Rosamunde Pilcher, Susan Elizabeth Phillips, Jojo Moyes oder Charlotte Link und wie die Bestsellerautorinnen alle heißen mögen; deren Covergestaltung und Buchtitel schrecken schon ab, bevor ich eine Zeile gelesen habe. Und die Klappentexte bestätigen nur meine Befürchtungen und wirken eher wie Warnhinweise: Vorsicht, die hier beschriebenen Personen, Konflikte und das zielsicher angesteuerte Happy End, gepaart mit einer unbedarften Sprache voll schiefer Bilder und falscher Metaphern, können toxisch wirken!

Nein, das geht heute – und nicht nur heute – nicht.

Heute geht – und nicht nur heute –, von einer Frau zu sprechen, die leider aufgrund von zwei, drei Werken bekannt, beliebt und ins Eck der „gefühligen“ Literatur gestellt wurde, was in keiner Weise ihrem literarischen Wert auch nur annährend gerecht wird und deren Aphorismen von einer seltenen Klarheit, Präzision und Aktualität sind. Ich spreche von Marie von Ebner-Eschenbach. 1830 als Freiin Dubský in eine gebildete mährische Familie geboren, lernte sie fließend Deutsch, Französisch und Tschechisch sprechen und schreiben und zeigte schon mit elf Jahren große Intellektualität, als sie selbständig und ohne fremde Leitung die Bücher ihrer verstorbenen Großmutter las und in der Bibliothek ordnete, wobei sich damals schon ihr Freigeist und ihre Unabhängigkeit von aller Metaphysik entwickelte. Mit 18 heiratete sie den 15 Jahre älteren Cousin Moritz, einen Professor an der Ingenieur-Akademie in Wien, der sie in allen ihren Interessen unterstützte. So absolvierte sie als Adelige und Frau eine Uhrmacherlehre und sammelte Formuhren, begann Dramen zu schreiben – allerdings erfolglos – und erregte Aufmerksamkeit mit ihren Dorf- und Schloßgeschichten (zu denen die mehrmals verfilmte Novelle Krambambuli zählt). Mit den Erzählungen Lotti die Uhrmacherin, Božena und Er laßt die Hand küssen (für mich einer ihrer stärksten Texte) sowie dem Roman Das Gemeindekind festigte sie ihren Ruf als einfühlsame Erzählerin mit einem klaren Blick auf soziale Ungerechtigkeit. 1898 wurde sie mit dem höchsten zivilen Orden Österreichs, dem Ehrenkreuz für Kunst und Literatur, ausgezeichnet und 1900 erhielt sie, zeitnah zum Erscheinen von Freuds Traumdeutung, den ersten weiblichen Ehrendoktor der Universität Wien.

Genug Gründe also, eines ihrer Werke erneut oder zum ersten Mal zu lesen und eine hervorragende Stilistin und starke Frau kennenzulernen. Und die Gelegenheit zu nützen, in Krisenzeiten seinen Intellekt zu schärfen. Deshalb empfehle ich ihre Aphorismen: Wie sie überraschende Gedanken (oder selbst schon einmal Gedachtes, nur eben nicht so präzise formuliert) auf den Punkt bringt, ist immer wieder erstaunlich und nötigt mehr als nur Respekt ab. Dies beginnt bereits mit ihrer Definition von Aphorismus: „Ein Aphorismus ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette.“ Treffender und gleichzeitig kürzer läßt sich das nicht sagen. In der Folge eine kleine Auswahl aus 500 Aphorismen. Lesen und genießen Sie sie und bedenken Sie, wann und von wem sie geschrieben wurden!


Die verstehen sehr wenig, die nur das verstehen, was sich erklären läßt.

Siege, aber triumphiere nicht.

Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht.

Alle irdische Gewalt beruht auf Gewalttätigkeit.

Der Gescheitere gibt nach! Eine traurige Wahrheit! Sie begründet die Weltherrschaft der Dummen.

Was du zu müssen glaubst, ist was du willst.

Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.

Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.

Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.

Wir müssen immer lernen, zuletzt auch noch sterben lernen.

Christoph Janacs, Anif


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Eine Antwort auf „Gedankenkette“

Absolut richtig : Fokus auf Marie!! Bravo auch super : Strigls Biografie der Dichterin !! ( Berühmt sein ist nichts , 2016 )

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