Gudrun Seidenauers erzählerische, also konzeptionelle, analytische und sprachpoetische Leistungen, die ihren Roman Libellen im Winter bestimmen und in wechselseitiger Ergänzung das Ganze ergeben, können sich sehen lassen.
Die Autorin hat offenbar viele und sehr heterogene zeit- und kulturgeschichtliche, auch psychologische Quellen verschiedenster Provenienz (z. B. wissenschaftliche Abhandlungen, Polizeiprotokolle, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge, Bücherlisten und Kinoprogramme, Modejournale, Religionshistorisches, Biographisches-Autobiographisches?) seit der NS-Zeit studiert und sich von diesen anregen lassen, so dass es ihr möglich wird, in vielen Erzählpassagen Zeit- und Kulturgeschichtliches mit den privaten Schicksalen eng zu führen. So weiß Seidenauer z. B. Bescheid über hegemonial herrschende Bewusstseins- und Gefühlsstrukturen sowie Kulturindustrielles der Nachkriegszeit, mit denen die weiblichen Figuren konfrontiert sind und aus denen sie sich nur mühsam bis gar nicht befreien können. Oft wird von abnormer „Verrücktheit“ als Zuschreibung und Internalisiertes gesprochen, was zwar schwer aufzubrechen ist, aber doch immer wieder im Trotz gelingt. Seidenauers Wissen um weibliche Innen- und Reflexionswelten bietet detaillierte Innen-Panoramen, wobei Reflexionen über Sprechen/Reden, Schweigen/Verschweigen, das Setzen des Gegenteils üblicher Meinungen und das Konterkarieren des Üblich-Normalen, das mühselige Aufrechterhalten von Fassaden, das gebannte Verstricktsein in belastende und quälende Erinnerungen und die Versuche der Befreiung durch ein Sich-Wegträumen und Arbeit (z.B. Mali als Arzthelferin, Vera als Kunsttischlerin) sehr gut lesbare Erzählpassagen auslösen. Seidenauers Erzählweise erreicht ihre plastische Lebendigkeit durch einige Ingredienzien, etwa assoziatives Erzählen, Rück- und Vorausblicke, Wechsel der Innen- bzw. Außenperspektive. Dazu kommt ihre Sensibilität für das Festhalten kleiner erhellender Gesten und erkenntnisfördernder Metaphern:
Im Radio spielt Fatty George etwas Leichtes, angenehm Belangloses, es klingt wie eine Nachricht von einem anderen Stern, und Mali gießt das Spülwasser weg. […] Das grüne Heft mit dem hübschen Rhombenmuster liegt so lange auf dem Beistelltischchen neben der Couch, dass ein staubfreies Viereck erkennbar wird, als Grete es zur Hand nimmt. Sie fährt mit zwei Fingern über das feine, extraglatte Papier. Ihr Kopf platzt fast immer noch jeden Tag vor Stimmen und Bildern, sie quellen aus ihr heraus wie Holzwolle aus einem Teddy, dem ein tobendes Kind den Bauch aufgeschlitzt hat. Ob sie das auch könnte? Sich einen Weg aus Wörtern bahnen, heraus aus dem Dickicht der Bilder. Schreiben helfe, sagt Mali im überzeugten Tonfall eines Arztes, bei ihr funktioniere das. Aber bei Grete nicht. Nicht dass ihr die Worte fehlen würden, im Gegenteil: Es sind zu viele, und sie wollen sich partout nicht in die Zeilen des grünen Hefts fügen und aneinanderreihen lassen. Dann kommt ihr die Idee mit den Listen: Für und Wider, Wollen und Müssen, Träumen und Tun, Fürchten und Hoffen. Grete entdeckt, dass in einer gewissen Anzahl von Pro- und Kontra-Kategorien das ganze Leben Platz findet.
aus: Gudrun Seidenauer: Libellen im Winter, Jung und Jung Verlag, 2023.
Libellen im Winter ist ein bemerkenswertes Buch – ein Lobpreis auf geglückte Solidarität, Zusammenhalt, Vertrauen, Loyalität, in dem auch ein Funken Utopie aufleuchtet. „Was geschehen ist, ist geschehen. Aber auch Fragen und Antworten sind Ereignisse, Reden und Schweigen. Sie [Manal] weiß noch nicht genau, was es ist. Aber etwas Neues beginnt.“
Der Roman Libellen im Winter ist 2023 im Jung und Jung Verlag erschienen. Gudrun Seidenauer wird am 24. Mai 2024 bei der Veranstaltung „Twinni – Texte zum Teilen“ auf Einladung von Literaturforum Leselampe und Literaturfest Salzburg die Salzburger Autorin Meta Merz bei einem Literaturpicknick im Kurpark vorstellen. Hier finden Sie alle Informationen zur Veranstaltung. Außerdem liest die Autorin beim Literaturfest aus Libellen im Winter. Hier finden Sie alle Informationen zur Lesung.