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„Erzählen ist eine Art aufzuräumen“

zu Gudrun Seidenauers Roman „Libellen im Winter“

In dem neuen Roman konkretisieren sich diese Aspekte hauptsächlich in der Erzählung über drei weibliche Lebensschicksale und die lebenslange Freundschaft zwischen Mali, Vera und Grete – im Jahre 1945 jeweils junge Frauen. Zwei Drittel der insgesamt 14 Kapitel des Romans sind hauptsächlich ihnen gewidmet und beleuchten nicht zuletzt ihre Gewalt-Erlebnisse, ihre weiblichen Erfahrungen, ihre traumatischen Verletzungen, ihre Träume, Wünsche und Sehnsüchte, ihren – dem harten Realitätsprinzip – mit schmerzlichen Kosten geschuldeten, letztlich aber gelungenen emanzipatorischen Leben in wechselseitiger Freundschaft. Keine Heldinnen werden konstruiert, sondern letztlich allesamt auf die eine oder andere Art und Weise Geschlagenen, Gedemütigten, die ihre Leben im Rahmen ihrer (spontanen) Handlungsmöglichkeiten in die eigene Hand nehmen, um sich – trotz allem – ein kleines Stück vom Lebenskuchen abzuschneiden. In einer Buchpräsentation in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (Wien 2023, unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans) hat Seidenauer einen Augenblick lang in ihre geistige Werkstatt blicken lassen, als sie die Auffassung Ruth Klügers zitierte, wonach die spontane, kalküllose „freie Tat“ – der Zufall als Ausdruck des freien Willens – das Fundament eines freien Lebens sei.

Mali, eine Figur, die bereits früh in Seidenauers „Hausroman“ (2012) angelegt ist, fordert nun in Libellen im Winter ihre volle erzählerische Ausgestaltung: Als junge Frau, schwanger von ihrer jungen Liebe, ihrem Halbbruder, der sie jedoch schmerzlicherweise verlässt, flüchtet sie als Verlassene vor der roten Armee aus ihrer tschechischen Heimat nach Wien, wo sie bei einer „Tante“ unterkommt. Der Zufall will es, dass sie auf die gleichaltrige Vera trifft, die, wie sich herausstellt, in Notwehr einen jungen amerikanischen Soldaten, der sie vergewaltigen wollte, erschlagen hat und in die Stadt flüchtet. Ihre Tat wird nie aufgeklärt, aber die Frauen wissen um diese Wahrheit, die schließlich auch von der Dritten im Bunde, Grete, die zu ihnen stößt, lebenslang bewahrt wird – eine Art „Schutzzauber“. Sie, die bei den US-Besatzern arbeitet und vom Bombenterror und von den Erinnerungen an die Toten der NS-Zeit, aber auch von ihren Schuldgefühlen Geplagte, erträumt sich nun ein neues, sinnlich reiches Leben im angeblich paradiesischen New York, erfährt durch eigene Recherche von Veras Tat und – schweigt in weiblicher Solidarität. Es ist erneut Zufall, dass sie auf die Schicksalsgenossinnen Mali und Vera stößt, so dass das Trio nun komplett ist. Sie ist es, die sich – im Gegensatz zu Mali und Vera – in ein dionysisches sexuelles, aber letztlich liebeloses Leben stürzt, aber erst spät ihre „verbotenen“ sexuellen Neigungen staunend entdeckt und die sich – angesichts der herrschenden repressiven Vorurteile und auch wegen der bandenmäßigen Männergewalt, die sie in der angeblich heilen Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderzeit gegen ihre sexuelle Orientierung richtet – pragmatisch in eine Schutzehe mit dem homosexuellen Erich begibt, was Mali und Vera respektvoll zurückhaltend in Freundschaft akzeptieren.

Konzeptionell gut überlegt bilden die Kap. 8 und 12 – eine gemeinsame Italienreise der Freundinnen mitten im boomenden Urlaubsfieber der 1960er/1970er Jahre sowie eine gemeinsame Erkundungs- und Erinnerungsreise zurück in die ehemalige Heimat der Mali –  für die Autorin die Möglichkeit, eine Art Verdichtung der Themen zu gestalten: Frauentypen werden noch weiter geschärft, die Vergangenheit „drängt sich in alles hinein“.

Die Mali-Vera-Grete-Kapitel werden durch vier weitere, für das Konzept und die Absichten der Autorin sehr aufschlussreiche Bedeutungsdimensionen des Romanes erweitert und vertieft: Es sind zum einen die beiden „Robert-Kapitel“ und zum anderen die zwei abschließenden „Manal-Kapitel“. Denn sie öffnen – insbesondere eng jeweils mit den Mali-Kapiteln verquickt – den Analyseblick Seidenauers auf die Bewusstseins- und Gefühlslage der Nachfolgegeneration der 1968er, nämlich auf Malis Sohn Robert und dessen Vatersuche, sowie – überkulturell – am Beispiel der syrischen Jesidin Manal auf die Gewalterfahrungen im letzten Jahrzehnt durch die terroristische dschihadistische Miliz des Daesh/IS. Auf diese Weise gewinnt Seidenauer die Möglichkeit, nicht nur die transgenerationellen Folgen der Traumen der „Zwischengeneration“ der Mütter/Väter am Beispiel der Söhne weit nach 1945 in ihre literarische Arbeit einzubeziehen, sondern auch die erschreckenden Analogien, insbesondere am Beispiel der Bewältigungsformen von Gewalt, zwischen der Frauen-Generation der Mali-Vera-Grete und jener der gefolterten jesidischen Flüchtlingin Manal zu zeigen – wieder im Vergleich mit dem Denken, Sprechen, Verhalten mit anderen Frauenschicksalen (z. B. am Beispiel der Freundin Ashwaq). So spannt sich der erzählerische Bogen der Autorin vom Ende des Zweiten Weltkrieges mitten in Europa bis zum islamistischen Terrorismus der Gegenwart: Manal findet sich – erzähltheoretisch vernünftig und ertragreich – als Altenbetreuerin der nunmehr über 90jährigen Mali und lernt von Malis Erfahrungen Substantielles, innerlich Stärkendes für ihr Leben – und die Leserin/der Leser erinnert sich an parallele, nicht minder bewegende Erzählpassagen vom Beginn des Romans. Die Zeit steht still – die Erde aber dreht sich weiter.


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