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„Erzählen ist eine Art aufzuräumen“

zu Gudrun Seidenauers Roman „Libellen im Winter“

Seit etwa 20 Jahren ist nunmehr Gudrun Seidenauer (geb. 1965, Salzburg) ein anerkannter Name einer außergewöhnlichen Romanautorin. Libellen im Winter (2023, Jung und Jung Verlag) ist ihr fünfter und wohl auch avanciertester Roman, in dem viele ihrer über die Jahrzehnte hinweg angesammelten Erkenntnisse als Menschen- und Zeiterkunderin in kondensierter Form überzeugend zum Ausdruck kommen – sicherlich ist es der bisherige Höhepunkt ihres Romanschaffens. Begonnen hat Seidenauer ihre poetische Karriere als Verfasserin von Anagrammen und lyrischen Texten, wofür sie auch ausgezeichnet wurde (Lyrikpreis des Landes Salzburg 1995). Wegen ihres „Brotberufs“ als Gymnasiallehrerin für Italienisch und Deutsch, die sogar einen beliebten gymnasialen Studiengang „Kreatives Schreiben“ mit jungen Leuten verantwortet, sowie aufgrund ihrer Erfahrungen als Leiterin von literarischen Schreibwerkstätten hat sie sich nicht nur hohe Anerkennung, sondern für sich selbst auch ästhetische, psychologische, kulturtheoretische und zeithistorische Kenntnisse erarbeitet, die nunmehr ihr Romanschaffen bis in viele Details hinein prägen.

2005 debütierte sie mit ihrem Roman Der Kunstmann und ließ in breiten Kreisen einer interessierten Leser*innenschaft wegen des aufrüttelnden Stoffes aufhorchen. Zum ersten Mal ließ sie damals – am historischen Exempel eines über Jahrzehnte hinweg geradezu brillant verlogenen Doppel- und letztlich fast gelungenen Verwandlungslebens eines ehemaligen hochrangigen SS-Mannes aus dem sog. „Ahnenerbe“ und späteren Literaturprofessors – einige jener für Seidenauer seitdem virulenten Themen aufblitzen, die in ihren folgenden, gut recherchierten Romanen erweitert und vertieft wurden. In der Folge geschah dies an Beispielen meist weiblicher Menschenschicksale, indem sie z. B. um folgende Themen kreiste: Schein und Sein, die Brüchigkeit von sog. Wahrheiten, die Ausbeutung von Vertrauen, die oft schmerzhafte Vergegenwärtigung des Vergangenen, traumatische Erlebnisse und deren „(Nicht-)Bewältigung“ kraft des Erzählens und/oder Schweigens bzw. Nichtsprechenkönnens, die offen und subkutan wirksamen ideologischen Kontinuitäten und Infragestellungen seit der NS-Zeit, die Defizienz des Gedächtnisses und der Widersprüchlichkeiten von Erinnerung und Wahrnehmung, Verrat und Zerwürfnisse, aber auch Resilienz und Lebenswille. Die Romane Aufgetrennte Tage (2009), Hausroman (2012) und Was wir einander nicht erzählten (2018) thematisieren solche Aspekte.

Seidenauers jüngster Roman Libellen im Winter, zu dessen vorerst rätselhaftem Titel auch jenes anspielungsreiche Buchcover eines Ausschnittes aus dem Gemälde der englischen Präraffaelitin Evelyn De Morgan (1855–1919) The Sea Maidens (1886) nach dem tragischen Undinen-Märchen Die kleine Meerjungfrau (1837) Hans Christian Andersens beiträgt, ist die bisher komplexeste Fassung von Seidenauers Gesamt-Romanprojekt seit 2005 – damit auch ihrer erzählerisch immer ausgefeilter konkretisierten Erkenntnis- und Darstellungsinteressen seit 2005. Diese sind breit, vielfältig und resultieren aus Seidenauers differenzierter werdenden Analysen – u.a. – der psychischen und sozialen Folgen von männlicher, sexueller, kriegerischer Gewalt für Frauen der Generation der in den 1920er bis 1930er Jahren Geborenen, aber auch aktueller weiblicher Folterungs- und Flucht-Erfahrungen von heute. Sie speisen sich in diesem Roman aus Seidenauers Interessen am Zusammenprall weiblicher Leben mit den Normen einer repressiven, patriarchalen Wiederaufbau-Gesellschaft nach 1945, d.h. aus den oft unsichtbaren, weil subversiven, norm-abweichenden Versuchen, sich in mutiger freier Entscheidung oder auch in spontaner Notwehr ein lebbares, kleines Leben in Solidarität und gegenseitiger Hilfe zu erkämpfen – „Libellen im Winter“. Drinnen und draußen – zwei Welten, die Seidenauer in Dialektik poetisch zu gestalten weiß.


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