Kategorien
auf jeden Fall Lektüren

Eine „Collage aus Sperrmüll“

Zu Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“

© Jung und Jung Verlag

Zugegeben – diese Pandemie hat uns alle, mehr oder weniger, zu Voyeuren gemacht. Zu Voyeuren und Exhibitionisten, beides zumeist unfreiwillig: In dem Maße, in dem persönliche Treffen ins Netz verlegt werden müssen, öffnen wir unsere Türen auch denen, die wir sonst nicht in unsere Wohn- und Schlafzimmer oder Küchen gelassen hätten (je nachdem, wo der Internetempfang am stabilsten, die Kinder am ruhigsten, der Hintergrund am schönsten aufgeräumt ist). Manche Einblicke behalten aber auch in diesen Zeiten, in denen das Familienfoto am Bildrand schon gar nicht mehr auffällt, weil mit der neuen Normalität eine neue Intimität Einzug gehalten hat, etwas Ungeheuerliches. Für mich war das, ausgerechnet, ein Wohngespräch der Tageszeitung Der Standard – mit Helena Adler, deren Debutroman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ eine der beeindruckendsten Neuerscheinungen dieses Jahres ist.

„Wenn man das Haus zum ersten Mal betritt, kennt man sich überhaupt nicht aus. Es tut sich eine Tür nach der anderen auf, und mit jeder geöffneten Türe vergrößert sich das Labyrinth. Im Vorzimmer beispielsweise gibt es ein geheimes Loch im Einbauschrank, und man gelangt gebückten Hauptes ins Vorhaus meiner Schwiegereltern.“

Wohngespräch, Der Standard, 13 Juli 2020

Was Adler über ihr Haus in Oberndorf bei Salzburg, diese „Collage aus Sperrmüll“, erzählt, ließe sich auch über ihren Roman sagen. Lesend betritt man einen Bauernhof und damit eine Kindheit, die ein ganzes Leben ist: „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.“ Schreibend öffnet Adler eine Tür nach der andern, und hinter jeder findet sich eine Collage aus Familiengeschichte und Dreck, Streit und Freiheit, Vollrausch, ausgerissenen Haaren, Flammen und Gott. In der Familie der Infantin schlägt und liebt man sich innig, und das Alltäglichste ist so überlebensgroß, dass es einer ganz besonderen Protagonistin bedarf, um sich in einer solchen Realität einzurichten. Kein Wort, keine Geste, kein Finger, der nicht ungeheuerlich wäre, keine Generation, die nicht alle vorhergehenden auf den Schultern trüge. Die Infantin kratzt, beißt, heult und schlägt sich durch, gegen die Verhältnisse, gegen die Schwestern, nicht ohne Blessuren und nicht ohne Furcht, aber ohne Rücksicht auf Verluste. So dringt man Kapitel für Kapitel episodisch in eine Sprach- und Gedankenwelt vor, die zum Lachen und Weinen ist, und das nicht selten gleichzeitig:

„Um Mitternacht dreht der Vater mit seinem Hofdrachen verliebte Pirouetten zum Donauwalzer am Asphaltparkett. Er sieht aus wie Max Ernsts Hausengel in Fleisch und Blut. Es ist ein vergiftetes Paradies, das sie uns simulieren, aber immerhin ein Paradies. Ein Sehnsuchtsort, an dem Huld blüht und Gnade wächst. Doch in unserer Erde gedeihen nur faulende Paradeiser, mit denen wir jetzt das Elternehepaar aus Scham bewerfen, weil uns ihre Verliebtheit peinlich ist. Nach dem letzten Bier und der letzten Drehung vollendet der Vater auf einer zugefrorenen Pfütze seinen guten Rutsch und bleibt reglos liegen, nur die Beine zappeln noch. Während die Schwestern gemeinsam mit der Mutter den monströsen Käfer auf eine Zeltplane hieven, um ihn ins Warme zu befördern, esse ich alle Marzipanschweine alleine auf. Ich stelle mir vor, dass mit jedem Schwein, das ich vertilge, ein Familienmitglied verschwindet. Mit letzter Kraft wuchten sie den Vater durch die Haustür, wo er dann, als Mutters leibeigener Türstopper, liegenbleibt und seinen Höhenrausch ausschläft.“ (S. 81f.)

Die geheimen Durchgänge in Adlers Buch führen zwar nicht zu den Schwiegereltern, aber vom Haupt- ins Auszugshaus, vom Dorf in die Stadt oder von der Kindheit langsam in die Teenagerjahre der Protagonistin – selten wurden das warme Bier, der schlechte Sex und die unendliche Langeweile einer österreichischen Jugend in der Provinz besser eingefangen. Wer glaubt, dass es sich so nicht leben lässt – sei es in Adlers Roman, sei es, wie mancher Standard-Poster anmerkt, in ihrem Haus – hat falsch gedacht.

Marlen Mairhofer, Salzburg


Die Infantin trägt den Scheitel links ist im Jung und Jung Verlag erschienen.


Bitte kaufen Sie Bücher in Ihrer lokalen Buchhandlung.


Beitrag teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert