Mais on est tous des voleurs. Ja, ich bin ein Gedankendieb, ich klaue geistiges Eigentum. „Oui, je suis un voleur de pensées.“ Diesen Satz von Gilles Deleuze hatte ich jahrelang im Gedächtnis behalten, aber er war gar nicht von Deleuze, wie ich später feststellen mußte; er paßte nur gut zu ihm und seinen geistigen Umtrieben. Das Original war in englischer Sprache geschrieben – Yes, I am a thief of thoughts –, und es stammte von Bob Dylan (aber vielleicht war es schon vorher auf einem anderen Mist gewachsen, wer weiß). Im Geistigen und im Künstlerischen gibt es, sollte es geben eine höhere Durchlässigkeit, ein Oszillieren zwischen Dein und Mein. Wozu die entsprechende Wendigkeit notwendig ist, geistige Wendigkeit, was etwas mit Ent- und Verwendung zu tun hat. Das, glaube ich, ist im Sinn von Renzi und Piglia, dieser wendigen Gestalt mit offener Identität. Und im Sinn von Borges, des großen Vorläufers, von dem Piglia im argentinischen Fernsehen folgende Geschichte erzählte, für deren Wahr- oder Falschheit ich nicht meine Hand ins Feuer legen würde: Piglia – oder vielleicht eher Renzi? – kam als Abgesandter einer studentischen Gruppe zu Borges in seine bescheidene Wohnung in der Calle Maipú in Buenos Aires, um ihn zu fragen, ob er einen Vortrag halten wolle. Borges war einverstanden, La Plata war ihm sympathisch, dünkelhaft war er ohnehin nicht, aber das vom Delegierten angebotene Honorar von 500 Pesos schien ihm zu hoch, er reduzierte es auf die Hälfte, 250 Pesos. Renzi beharrte auf 500, sie würden ja doch von der Universität bezahlt, man müsse das Geld ausgeben, aber Borges blieb bei seinem Vorschlag. Er, der dem politischen Kommunismus ebenso abhold war wie dem Peronismus, näherte sich feilschend kommunistischen Gesellschaftsutopie, in der man bekanntlich kein Geld mehr braucht, um die menschlichen Beziehungen in Gang zu halten.
Borges hat immer wieder Texte gefälscht, kopiert, verändert, hat Urheberschaften simuliert, Spuren verwischt, irreführende Spuren gelegt. Das gehört a priori zum literarischen Spiel, es ist gewissermaßen sein luftiges Fundament, und Borges beherrschte es wie kaum ein anderer. So fabrizierte er immer wieder „doppelte Texte“, Eigentexte in fremden und fremde in Eigentexten, die sich genauso vervielfachen konnten wie Er und Ich. 1970 hielt Renzi darüber einen Vortrag, den er im Tagebuch kurz skizzierte:
Das Zitat, das Plagiat und die Übersetzung, Beispiele einer Schrift in einer anderen, die folglich implizit ist. Man liest einen schriftlichen, von einem anderen geschriebenen Text, und die Aneignung kann legal sein (Zitat), illegal (Plagiat) oder neutral (Übersetzung). Borges gebraucht seine persönliche Methode des Übersetzens, um sich alle Texte, die er zitiert oder plagiiert, anzueignen: sein „unverwechselbarer“ Stil macht alles, was er schreibt, zu seinem Eigentum. Mit höchster Geschicklichkeit verwendet er außerdem irreführende, vielfache, irre Zuschreibungen: in der Regel unterschiebt er seine eigenen Sätze anderen, gibt aber auch fremde Formulierungen als seine eigenen aus.
Die lächerlichen Plänkeleien und Zänkereien in Bezug auf Plagiate – „Fall Hegemann“, aber auch Politiker, die ihre belanglosen Magisterarbeiten angeblich nicht selbst verfaßt haben – wirken kleinlich und altbacken angesichts dieser fortgeschrittenen Überlegungen und der hohen Kunst, sie erläutern. Die Frage ist doch – mit Borges und el otro Borges [6], mit Renzi und Piglia –, ob gut plagiiert, zitiert, geschrieben, übersetzt wird oder schlecht. So oder so können die Mitglieder der jüngeren Generationen heute nicht mehr zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Kopie und Original, zwischen Zitat und Plagiat unterscheiden. Darin sah Piglia, der unverbesserliche Optimist, in seinen letzten Lebensjahren sogar eine Chance. Die Hacker von Wikileaks nahmen in seinen Augen den
Fehdehandschuh auf, den Rodolfo Walsh als Dokumentarist hatte fallen lassen müssen – gegen die Häscher der Militärdiktatur hatte er keine Chance. Piglias Wahrnehmung dieser Vorgänge in der digitalen Welt wirkt ein wenig naiv; die geklauten Daten, sagt er, würden an jedermann weitergereicht, zum Beispiel an Publizistikstudenten in aller Welt, aber auch an Journalisten, an die traditionellen Massenmedien. Daß eine Hauptschwierigkeit angesichts der ungeheuren Datenmengen in der Auswahl und Darstellung liegt, dieses im Vergleich zu Walshs Zeiten um ein Vielfaches angewachsene Problem fällt dabei unter den Tisch, Piglia zieht es vor, in dem neuen Anarchismus „vielversprechende Zeichen“ zu sehen, die dann auch in seinen letzten Roman eingegangen sind, wo der alternde Renzi die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der ein Cyberpunk-Mädchen und ihre anarchistischen Freunde sich in die Schaltkreise der Hochfinanz einschleichen, mit einer „Mischung aus Bewunderung und Staunen“ gewahrt (wobei im zweiten Nomen, asombro, auch ein wenig Düsterkeit mitschwingt [7]).
Wenn es um neue Technologien ging, wies Piglia gern darauf hin, daß es da zwei Ebenen gebe, eine inhaltliche, auf welcher der „Fortschritt“ sich zum Beispiel darin ausdrücke, daß die Figuren statt Briefen Emails schreiben, und eine weniger faßliche und schwerer analysierbare Ebene, wo die technologischen Änderungen auf die Schreibweise einwirkten. Piglia ahnte, daß die beliebige, jederzeitige Verfügbarkeit und Kopierbarkeit aller Arten von Material eine neue Wendigkeit, aber auch Oberflächlichkeit erzeugen kann: die Welt als Supermarkt, um es mit dem Titel eines Essays von Houellebecq zu sagen. „Ich bin echt veraltet“, sagt Piglia beim Gespräch in Princeton, halb im Scherz. „Da laufe ich in die Videothek, um mir einen Film auszuleihen, und der Typ lädt sich aus dem Netz runter, was er will.“ [8]
So ein Videoladen kommt im letzten Teil seines Munk-Romans vor; der „Typ“ ist dort ein deutsch-amerikanischer Studienabbrecher in Berkeley, Überbleibsel aus der Hippie-Zeit, eigentlich staatenlos, wie er „mit dem Stolz eines Bürgers der Zukunft“ sagt. Für den alten Renzi, den mehr oder minder erfolgreichen Schriftsteller, der sich immer noch als Ermittler, als Amateurdetektiv herumtreibt, war der Sinn für die Tiefenschärfe des Historischen, für die subkutanen, nicht immer sichtbaren Umwälzungen, eine Selbstverständlichkeit, und der Gebrauch dieses Sinns, nicht zuletzt beim Wiederlesen der eigenen Tagebücher, literarisches Tagewerk. Was aussteht und was er nur in Ansätzen leisten konnte, ist die Verknüpfung der neuen Wendigkeit mit jenem Geschichtsgefühl, das seiner (und noch meiner) Generation als Humanismus, d. h. als Menschlichkeit überliefert wurde.
Leopold Federmair, Wien
[6] Jorge Luis Borges: Borges et moi, in: Oeuvres complètes. Hrsg. v. Jean Pierre Bernès. Paris: Gallimard 1999, Bd 2. Borges zitiere ich am liebsten aus dieser Ausgabe (die María Kodama ein Dorn im Auge war und vielleicht noch ist). Der Text wurde unter dem Titel Borges und ich ins Deutsche übersetzt.
[7] Ricardo Piglia: Munk. Aus dem argentinischen Spanisch von Carsten Regling. Berlin: Wagenbach 2015.
[8] Ricardo Piglia: Medios y finales, in: La forma inicial. Conversaciones en Princeton. Madrid: Sexto Piso 2015.