Japanische Betrachtungen
Grenze, border, frontière ist für Japaner, die die jeweilige Sprache halbwegs beherrschen oder zu erlernen versuchen, ein schwieriges Wort, meistens verstehen sie die Bedeutung nicht, wenn ich es gebrauche. Es könnte daran liegen, daß Japaner in der eigenen Sprache selten von der Grenze – Landesgrenze – sprechen. Natürlich gibt es auch im Japanischen ein Wort für Grenze: kokkyou oder kokkyousen, Trennlinie. Wenn sie eine Auslandsreise machen, in der Regel mit dem Flugzeug, auch wenn es nur nach Taiwan oder Südkorea geht, sprechen sie freilich von Übersee, kaigai, die anderen Länder sind in jedem Fall weit weg, sie kleben nicht am eigenen Land. Das Wort kokkyou wird selten gebraucht, im Unterschied zu border in den USA oder in Europa, wo in den Massenmedien zeitweise von nichts anderem die Rede ist, auch wenn man viele europäische Binnengrenzen abgeschafft hat (was immer wieder einmal in Frage gestellt wird).
Japan ist nicht der einzige Inselstaat der Welt, aber seine Randlage auf dem Globus ist doch einzigartig. In gewisser Weise ist die Gruppe der japanischen Hauptinseln die Grenze der Welt, also der Erde, terra, danach kommt nur noch Ozean. Nach fast zwei Jahrzehnten, die ich hier verbracht habe, fühlt sich das immer noch so an. Aufgrund dieser Lage war Japan jahrhundertelang vom Rest der Welt isoliert oder hat sich freiwillig abgeschlossen – nie vollständig, die Beziehungen zu China reichen sehr weit zurück, und lange davor gab es Landbrücken zum asiatischen Kontinent. Die portugiesischen Seefahrer, die Japan Ende des 15. Jahrhunderts erreichten, wurden mit gemischten, wechselnden Gefühlen empfangen, das Christentum, das sie als ideologisches Gut mitbrachten, konnte sich nur in Ansätzen verbreiten, und die holländischen Kaufleute, mit denen man später Handel trieb, durften sich nur in Nagasaki beziehungsweise auf der dort angelegten künstlichen Insel aufhalten.
Einerseits ist die Grenze überall, man lebt auf der Grenze; andererseits komme ich nie an eine Grenze, soweit ich mich zu Lande von meinem sogenannten Lebensmittelpunkt, meinem Wohn- und Arbeitsort, entferne. Ich komme immer nur an weitere Ränder, nach Shikoku, dort hinter die Wälder, an irgendeinen Strand, in entlegene Gebiete, Inbegriff von Provinz (Kenzaburo Oe stammt von dort). Nach Okinawa, zur südlichsten Hauptinsel, nach einer etwa zwanzigstündigen Schiffsreise von Kagoshima aus, einer anderen Landspitze einer anderen Insel, Kyushu, oder eben mit dem Flugzeug, von Hiroshima aus zwei Stunden. Ich begebe mich auf die Goto-Inseln, von Sasebo in der Präfektur Nagasaki aus (Ryu Murakami stammt von dort), oder in die Inselwelt der Setonaikai, der Inlandssee zwischen Honshu und Shikoku auf der Höhe von Kobe, Okayama oder Hiroshima, und stelle fest, daß es immer noch eine weitere Insel gibt, so kommt man nie an die Grenze.
Eine unkontrollierte Einwanderung nach Japan aus dem Ausland, wo immer das sein mag, ist so gut wie unmöglich. Darin liegt, neben der restriktiven Fremdenpolitik, der Grund dafür, dass es hier so gut wie keine Flüchtlinge gibt. Die Überfahrt auf Booten vom Kontinent wäre zu lang und zu gefährlich. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nach dem Ende des Kriegs zwischen Nord und Süd, steuerten Hunderttausende vietnamesischer Boat People Hong Kong, Indonesien oder Malaysien an; Japan lag außerhalb ihres Horizonts.
Als ich ein Kind war, in Oberösterreich, sagten die Leute „in Deutschland draußen“; das war für uns jenseits der Grenze; die nördliche, nach Tschechien, war undurchdringlich, da gab es kein Jenseits. Wenn ich mir in Japan das nächste Land vorstelle, denke ich zunächst an das Meer, sei es im Osten, sei es im Westen. Irgendwo, unsichtbar, nicht markiert, verschwimmend, muß es trotz allem Grenzlinien geben, auch die Meere gehören schließlich zu einem Land, oder die Länder teilen sie sich auf, und da kommt es besonders oft zu Unklarheiten, zu Streitigkeiten – nicht der Landesbewohner, sondern der geopolitischen Strategen, mit denen die Gemeinsterblichen nicht viel am Hut haben. Ich versuche, mir die Ostgrenze vorzustellen, oder ist es die Westgrenze, die Himmelsrichtungen kommen mir nach zwanzig Jahren immer noch durcheinander, jedenfalls dort draußen, vom Rand von Shikoku aus gesehen oder von der Präfektur Fukushima, die vor zehn Jahren von einem Tsunami überrascht wurde, der dann rückflutete und herrenlose Boote oder Schiffe bis nach Kalifornien trieb, diese unermeßliche Grenze mir nichts dir nichts überwindend. Zirka 14.000 Kilometer. Die USA sind ein Nachbarland von Japan. Wie auch China, Korea, die kürzeste Distanz beträgt 1000 Kilometer.
In den siebziger und achtziger Jahren tauchten von Zeit zu Zeit nordkoreanische Boote an der Küste des Japanischen Meeres auf, unangemeldet, blitzartig, illegal. Die Besatzung schnappte willkürlich Passanten, japanische Staatsbürger, mehr oder minder junge Männer und Frauen, und entführte sie nach Nordkorea, wo sie später für Übersetzungs- und Spionagezwecke herangezogen werden sollten. Zu Beginn unseres Jahrhunderts gestand die nordkoreanische Regierung die Entführungen offiziell ein und entschuldigte sich dafür. Einige der Entführten wurden nach Japan zurückgebracht, sie waren natürlich gealtert, manchen von ihnen sah man (im Fernsehen) an, daß ihre körperliche Verfassung schlecht war.
Diese Menschen hätten gern darauf verzichtet, die unmögliche Grenze zu überwinden, zur Überwindung gezwungen zu werden. Aber auch junge Leute von heute haben oft wenig Interesse an Grenzüberschreitungen. In Japan fühlen sie sich in Sicherheit, und Sicherheit ist für sie das Wichtigste. Die Zahl der japanischen Austauschstudenten in anderen Ländern ist auffällig gering, vergleichsweise viel geringer als die ihrer südkoreanischen Pendants, und Fremdsprachen zu erlernen scheint für die meisten immer noch ein Ding der Unmöglichkeit zu sein – das alles der Wirtschafts- und Bildungspolitik zum Trotz, die das Steuer schon vor Jahren auf Globalisierung gestellt hat. Japan wird immer am Rand bleiben, aber das wird uns nicht hindern, weiterhin Autos in alle Welt zu verkaufen. Auf den Parkplätzen an der Küste von Nagoya stehen sie zu Tausenden bereit, sie warten auf die Schiffe, die sie über den Ozean nach Kalifornien oder in südlicher Richtung nach Australien befördern werden.
Leopold Federmair, Hiroshima
Dieser Text ist Teil des Projekts An/Grenzen von Petra Nagenkögel und Tom Schulz, das diese im Rahmen der Internationalen Literaturdialoge realisieren – auf Initiative der Sektion für internationale Kulturangelegenheiten des Außenministeriums in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur.