Unter dem Titel Das Foto schaute mich an veröffentlichte Katja Petrowskaja im Jahr 2022 Fotokolumnen aus den vergangenen sieben Jahren, ein Band, von dem die Autorin im Nachwort schreibt, er sei „vom Krieg umklammert“, von der russischen Annexion der Krim, der Besetzung des Donbass. In ihrem nun erschienenen Buch „als wäre es vorbei“, auch das eine Sammlung von Fototexten, beginnend mit Februar 2022, lesen wir – so der Untertitel des Bandes – Texte aus dem Krieg und damit aus der sich mit jedem Tag fortsetzenden Unmittelbarkeit eines Geschehens, das greifbar nahe und zugleich unbegreifbar ist:
Ich schaue durch die Bilder, die ich ausblende, die ich auch in mir verschweige, die ich nicht zeigen kann. Man sieht den Krieg in allen Netzwerken – was aber ist sein Gesicht?
Eine Ruine im Zentrum von Charkiw? Eine Frau mit Baby im zerstörten Geburtshaus? (…)
Menschen, die seit Wochen in der U-Bahn leben? Mariupol aus der Vogelperspektive?
Katja Petrowskaja ist in Kyjiw aufgewachsen, seit mehr als 25 Jahren lebt sie in Berlin. Mit ihrer Mutter, mit Freunden und Bekannten in der Ukraine ist sie verbunden, durch Telefon und soziale Medien, facebook wird zu ihrem „Kondolenzbuch“. Der Krieg ist „online“, ein Stakkato von Bildern der Zerstörung, sie scheinen sich zu wiederholen, lassen Gewöhnung zu, anonymisieren das Sterben.
Der Unfassbarkeit dieser Bilder setzt die Autorin die genaue, so empathische wie analytische Betrachtung bewusst gewählter Fotografien entgegen. Sie findet sie auf Instagram, auf den Kanälen ukrainischer Fotografen, in ihrem persönlichen Archiv. Ausschnitte von Wirklichkeiten, die wir auf den ersten Blick nicht zuordnen können, deren Geschichte wir nicht kennen: Ein Mann, der bis zur Hüfte im aufgerissenen Asphalt einer Straße steht, Teile antiker Skulpturen zwischen grünem Gewächs. Das grimmig-traurige Gesicht eines Jungen inmitten einer Menschenmenge. Drei Bäume in sattem Grün, eine alte, nie geschriebene Postkarte, ein Soldat zwischen Feldbett und Weihnachtsbaum.
Die Fotos sind für die Autorin Halte- und Bezugspunkt zugleich, sie öffnen den Raum für die Möglichkeit, trotz der immer wieder empfundenen „Unmöglichkeit der Worte“ vom Krieg zu schreiben. Im Blick auf die Einzelheit wird der größere Zusammenhang fassbar, entsteht eine Vorstellung von den Dimensionen des Ganzen. Jeder der auf zwei, drei Seiten verdichteten Texte geht aus von einem konkreten fotografischen Moment, der gleichsam neu belichtet wird, um im Schreiben aufzufalten, was das Bild nicht erzählt, was außerhalb des Sichtbaren liegt.
Da ist etwa ein Foto von Männern in blauer Arbeitskleidung, sie haben Schaufeln in den Händen, hinter ihnen ein Wald. „Schaufeln reimen sich auf Kiefern“, heißt es im dazugehörigen Text. Die Männer sind Teil eines Exhumierungsteams, in Isjum, einem Ort in der Ostukraine, heben sie Massengräber aus. Der Name Isjum bedeutet „Rosine“.
Oder das Bild einer jungen Frau, sie sitzt auf Stufen vor einem Hauseingang, einer durchlöcherten Tür. Es zeigt Viktoria Amelina, Autorin, Menschenrechtsaktivistin, Mutter eines kleinen Sohnes. Ihr letztes Projekt, ein Buch, das Kriegsverbrechen an Frauen dokumentiert, konnte sie nicht mehr fertigstellen, sie wurde von einer russischen Rakete getötet.
Dann das Foto eines Hundes, der mit seinen Pfoten ein menschliches Bein umklammert. Als eines von wenigen Tieren hatte er sich nach der Sprengung des Staudamms Kachowka retten können, auf einem Holzstück stehend war er 160 Kilometer weit getrieben, bis nach Cherson, wo er mit einem Schlauchboot geborgen wurde. „Die Überflutung hat die Tiere zu den wichtigsten Helden gemacht, als hätten sie nicht, um zu überleben, sich an die Menschen geklammert, sondern die Menschen sich, um als Menschen zu überleben, an die Rettung der Tiere.“
Und schließlich auch die Bilder, von denen die Autorin sich gleichsam „in Obhut“ genommen fühlt, Erinnerungen an Reisen, ein Regenbogen vor dem Fenster—Momente, die das Kontinuum der Schrecken unterbrechen, Momente, in denen es für einen Augenblick so scheint, „als wäre es vorbei“.
Jeder der im Buch versammelten, im Abstand von jeweils drei Wochen für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung geschriebenen Texte ist, so betont die Autorin im Nachwort, eine Momentaufnahme, mit konkretem Datum versehen: „Man kann nicht im Krieg über den Krieg nachdenken, er überholt einen immer.“ Und doch vermittelt sich im Zusammenhang des Bandes nicht nur eine Chronologie der letzten drei Kriegsjahre, sondern auch eine Kontinuität des Nachdenkens: Darüber, wie sich von Krieg schreiben lässt, ohne seine Gewalt in sich aufzunehmen, ohne sie weiterzutragen. Darüber, wie der Krieg sich dem Denken, Fühlen, Sprechen aufzwingt, der Wahrnehmung, dem eigenen Blick. Wie er die vertrauten Topografien, Landschaften, Stadtbilder zerstört, wie er die Zeitrechnung zerreißt in ein Davor und ein Jetzt.
Es sind luzide und schmerzhafte Einsichten, an denen die Autorin uns teilhaben lässt, etwa wenn sie davon schreibt, dass durch den Krieg auch „die sozialen Wunden“ des Landes aufgedeckt und die zuvor kaum wahrgenommenen, nun schutzlosesten Gruppen der Bevölkerung sichtbar wurden, alte Menschen, Kranke, Obdachlose. Oder wenn sie feststellt, dass es zur Logik des Kriegs gehört, „einem das Recht auf Schönheit zu entziehen“. Katja Petrowskaja lenkt den Blick aber auch auf Erfahrungen verdichteter Menschlichkeit, auf die Kreativität der Menschen im Bewältigen des Kriegsalltags, auf soziale und künstlerische Projekte, die entstehen, um zu helfen, um zu trauern, um zu gedenken.
Die Texte des Bandes, so fragmentarisch sie sind, korrespondieren miteinander, sie schaffen weite Bezüge, Assoziations- und Erinnerungsräume, in einer Poetik des Verbindens, die dem Trennenden des Kriegs zuwiderläuft. „Die Gegenwart verlangt Haltung“, heißt es an einer Stelle. Von Haltung spricht Katja Petrowskaja Buch auf jeder Seite, mit jedem Text. Es liest sich als Zeugnis, als Dokument, nicht zuletzt aber auch als entschiedener Akt des Widerstands.
In leicht gekürzter Fassung erstveröffentlicht in: ORF, Ö1 – Ex libris
Sendung vom 6.4.2025
Katja Petrowskaja präsentiert auf Einladung des Literaturvereins prolit am 27. Mai 2025 im Literaturhaus Salzburg das Buch Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg, das im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Hier finden Sie alle Informationen zur Veranstaltung und hier zum Buch.