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von Fall zu Fall Fragen

Die Poesie einer fallenstellenden Sprache

IV.

Wenn schreiben bedeutet, „den Fußspuren der anderen Frauen nachzuspüren“, welchen Fußspuren folgen Sie?

Vielen, sehr vielen. Ich stehe in der Schuld all jener, die vor mir kamen, all jener, die den Weg geebnet haben und es möglich gemacht haben, dass ich mich heute vor einen Computer setzen und Worte eintippen kann. Von Schwester Juana Inés de la Cruz, die verstanden hat, dass für Frauen ihrer Zeit die einzige mögliche Freiheit darin bestand, sich in einer Klosterzelle einzusperren; oder Jane Austen, die im Wohnzimmer ihres Hauses schrieb und die Zettel jedes Mal versteckte, wenn Besuch kam; oder Virginia Woolf, die erstmals auf unser Bedürfnis hinwies, einen eigenen Raum zu haben; bis zu Sylvia Plath oder Chantal Maillard, die mich gelehrt haben, den Schmerz in Poesie zu verwandeln. Mit ebenso großem Enthusiasmus, wie als ich sie entdeckte, lese ich zum wiederholten Male Emily Dickinson, Rosario Castellanos, Marina Zwetajewa, Anne Carson, Adrienne Rich, Audre Lorde, Margaret Atwood, Herta Müller, Ángela Figuera, Olvido García Valdés, Piedad Bonnett und so viele andere. Wenn es etwas gibt, das mein Schreiben immer versucht hat, dann ist es, die Lüge des Ichs aufzuheben. Meine Poesie versucht uns daran zu erinnern, was schon Pessoa sagte: „Ich bin viele“. Identität und Alterität vermischen sich, brauchen sich, ergänzen sich, richten sich aneinander auf. Jede Stimme wird aus zahlreichen Stimmen gebildet. Deswegen ist es mir so wichtig, dass meine Poesie zu einer Genealogie wird, einer Art Kamera, mit der man ein Familienfoto machen und das Gesicht unserer Mütter und Großmütter zeigen kann, dieses Gesicht, das das Patriarchat so oft aus der Geschichte ausradiert hat. In meinen Büchern tauchen ständig andere Autorinnen auf und kommen zu Wort, sodass es sehr leicht ist zu wissen, welchen Spuren ich folge.

V.

In den Gedichten gibt es wiederkehrende Worte und Motive. Das führt dazu, dass es einen großen Bezug zwischen den einzelnen Gedichten gibt. Der ganze Gedichtband ist eine komponierte Einheit. Wie ist das Verhältnis vom einzelnen Gedicht zum ganzen Gedichtband?

Ich sehe eine Gedichtsammlung nicht als eine Anzahl von Gedichten, sondern als eine Gefühlseinheit, als ein Ganzes, bei dem jeder Teil miteinander verbunden ist. Für mich ist eine Gedichtsammlung ein Gebäude, das von einer Idee getragen wird, die, zweifelsohne, an erster Stelle kommt und das Wichtigste ist. Normalerweise sind in dieser Idee schon viele Dinge enthalten: die Abschnitte, die das Buch haben wird, in welcher Beziehung diese zueinander stehen werden, was sie miteinander verbinden wird, welchen Tonfall die Gedichte haben werden und auch, welche Art von Metaphern ich verwenden werde. Das Fundament von Inventar el hueso (Den Knochen erfinden), das Buch, aus dem die Gedichte aus Wir Frauen im Hinterhof eines sehr großen Hauses stammen, ist die Kritik an der Moderne und das Vorhaben, ausgehend vom Bild zu arbeiten, ausgehend vom Suggestiven; ausgehend von der theoretischen Reflexion, dabei aber die emotionale Distanz aufhebend, aus der heraus sich üblicherweise das Essayistische äußert. Ich wollte eine Expedition zu den Ruinen dieser verstümmelten Moderne unternehmen, eine Untersuchung all dessen, was seit Jahrhunderten zerbricht: das Märchen vom Subjekt, sein Verstand, seine Sprache, das Konzept von Poesie, das sich darüber erhebt… In diesem Zusammenhang hatte ich die Idee, einen Weg für die Personalpronomen aufzumachen, eine Reise, die in diesem Ich beginnt (konzipiert als eine erstickende Fiktion) um dann in einen Dialog mit dem „Du“ zu treten, das uns bewohnt, und ausgehend von diesem Dialog mit der Andersartigkeit zu versuchen, ein wunderbares und notwendiges „Wir“ der Frauen aufzubauen und das „Euch“ zu demaskieren (als Personifikation der Macht), das uns erdrückt. Diese Reise wird durchzogen von wiederkehrenden Bildern (die Samen, die Knochen, die Erde, die Toten, die Hände, die Augen, der Angelhaken), die als roter Faden fungieren und einen Dialog zwischen den verschiedenen Gedichten führen.


© hochroth Verlag

Die Gedichtzitate stammen alle von Olalla Castro aus dem Band Wir Frauen im Hinterhof eines sehr großen Hauses / Nosotras, en el patio de atrás de una casa muy grande, der 2020 im hochroth Verlag erschienen ist, aus dem Spanischen übersetzt von Astrid Nischkauer.

Informationen zur Autorin und zum Buch finden Sie hier.


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