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Die Krone der Königin

Es könnte sein, dass sie sich die Krone vom Haupt gerissen hat und losgestürmt ist, dass die schweren Glieder leicht geworden und sie übers Feld geflogen ist, durch Wälder und über die sieben Berge. Dabei ist das graue Haar schwarz, das Antlitz ebenmässig geworden. Es kann sein, dass die feurigen Füsse sie getragen haben, die Rollerblades festgezurrt, die Waldschneise lang, den kinderwagentauglichen Weg. Achtung, die Königin kommt. Sie rauscht vorbei, sie trägt die Krone in der Hand, das Haupt gereckt, den Blick gezoomt. Es könnte sein, dass die Königin genauso schnell ist wie die Tochter. Der Auftritt der Königin. Verwandelt, zerzaust und vom Wind zerblasen. So fetzt sie an der Tochter vorbei, die sich gerade durch den Wald schleppt, als müsste sie sieben Picknick-Körbchen tragen und sieben Wolljäckchen, falls es kalt wird. Dabei schleppt sie nur sich selbst. Zum Teich wollte sie zur Erholung. Die Glieder hängen lassen. Das Auge mal ruhen lassen. Dort, wo die Frösche quaken und Unheil verkünden, dieweil der Graureiher starrt. Die Königin aber, sie will nicht vergessen werden. Denk an mich. Die Tochter fasst sich an den Kopf, ein Migräneanfall. Die Königin aber hockt schon. Sie hat Platz genommen, wo sie immer sitzt. Immer thront sie der Tochter im Kopf. Cut.

Und vor ihr der Graureiher. Regungslos. Zu Stein geworden. Stiller als die Natur. Wieso halten die Frösche nicht endlich die Klappe. Doch die machen ihr Konzert, blähen die Blasen und quaken um ihr Leben. Der Reiher starrt. Ein Fels. Dieweil die Mutter, es ist die Königin, seit Stunden schon, seit Tagen, seit Monaten und Jahren, ein Leben lang eben sitzt. Jedes Leben. Schon immer sitzt die Königin der Tochter im Kopf. Das bleiche Antlitz verzittert, schaut, wie das Leben voranschreitet und vorbeizieht. Sie ist grau, die Tochter kann es im Blick des Reihers sehen. Der macht einen Schritt. Langsam hebt er die Stelze, unendlich langsam, sehen die Frösche denn das nicht. Sein Schnabel ist scharf. Jetzt ein Blinzeln. Wieder sitzt da die Königin im Auge des Reihers. Die Tochter fasst sich an den Kopf, fasst sich in die Tasche, fingert, die Tabletten nicht dabei. Der Reiher, so langsam, er bewegt sich. Er reckt den Hals, der Schnabel ist spitz, verstummen die Frösche? Was soll sie tun, die Prinzessin japst, der Reiher schnappt. Das Tier hängt und zappelt. Ein labbriger, schleimiger Quaker. Die Beine, die Arme, sie hängen, ein hässlicher Königssohn, voller Pfuhl und Dreck. Der Reiher blinzelt, die Königin nicht. Der Reiher schlingt, zerdrückt, verdaut. Kein Königssohn entspringt. Die Prinzessin singt. Es entfährt ihr ein Laut, ein Wiegen und Schaukeln. Die Stimme macht es von alleine. Hier im Naherholungsgebiet. Es ist ihre Joggingstrecke. Hier erholt sie sich vom Schuften, Krampfen, Leiden. Die Königin blinzelt. Die Tochter sieht’s. Es ist die Mutter. Cut.

Da rennt die Prinzessin. Sie rafft die Kleider. Jetzt nimmt sie den andern Weg. Vielleicht wird sie die Königin los. Sie stösst kleine Pustewölkchen aus, Schweissperlen schmücken ihr Gesicht, purpur ist ihr Körper, die Hitze steigt ihr in den Kopf. Soll die Mutter doch schmoren. Und siehe, und wie sie so rennt, ist sie längst ergraut, die Tochter, weiss wie Schnee und schwarz wie Ebenholz, das war gestern, wie sie so rennt, längst ergraut und wieder die Schwere, die Mühe, die Glieder, sie ächzen und sind schwer. Sie keucht durch den Wald, das Zünglein gerollt im Mundwinkel, gleich ist sie wieder auf Arbeit, nach der Joggingrunde, nach dem Boxenstopp am Teich. Das war die Mittagspause. Jetzt geht sie gebückt, die Tochter. Der Kopf hängt vor, die Augen trübe. Zurück in der Stadt, auf Arbeit am Fenster. Da sitzt sie schon, wie die Königin. Cut.

Die Arbeit weht am Fenster vorbei. Es sind Blätter, die sie nicht mehr zu beschreiben braucht. Seit die Arbeit papierlos ist, ist die Arbeit schmal geworden. Auch geruchlos. Der Blick ist im Tunnel gefangen, geradeaus, dort, wo die Buchstaben und Zahlen blinken. Da füllt sie Lücken aus und lässt das System addieren. Verschiebt dies und das, addiert vor und rück. Sie sieht, wie die Blätter zu Nebelstreifen geworden sind, die vorbeifliegen und ihr den Tag verschleiern. Früher hatte sie den Zwergen den Kaffee serviert und die Brezen mit Butter bestrichen. Doch die Zwerge hatten aufgemuckt. Sie wollten den Kaffee nicht mehr aus der Kanne. Sie wollten ihn mit Schaum. Wie in der Werbung. Da brühte die Prinzessin Kaffee und machte Schaum. Aber der Schaum gelang nicht wie in der Werbung und der Kaffee schmeckte nicht, wie die Werbung sagt. Da waren die Zwerge eingeschnappt. Eigentlich war auch die Prinzessin eingeschnappt. Denn, was sollte sie mit Zwergen, die Latte Macchiato trinken. Würden sie für sie sorgen, wenn ihr der vergiftete Apfel im Hals steckenblieb und sie im Koma lag? Wenn sie am Ende und völlig fertig war. Wenn sie in des Lebens Tiefpunkt angekommen war. Wenn sie im Glassarg ruhte. Wenn sie auf die Wendung wartete. Cut, cut, cut.

Sie könnte sich auch sofort einen Prinzen holen. Dafür brauchte sie nur eines der Rechnerchen der Zwerge entwenden und eine Runde tindern. Einer mit geschwungenen Augenbrauen und melancholischem Blick. Als er dann auftauchte, war er depressiv. Das war seine Natur. Vielleicht war er so, weil sie ihm ihre Rettung versaut hatte. Die Schwermut des Prinzen. Das taugte für eine Überschrift eines Artikels in einer Gazette. Es gefiel der Tochter aber ein bisschen, ein melancholischer Prinz würde nicht so prinzig aussehen. Denn, was wollte eine Prinzessin mit einem Schokoladenkeks-Versprechen. In Wirklichkeit hatte der Prinz seinen Sinn verloren. Er stand verloren da wie ein Pappkamerad. Das brachte das ganze System ins Wanken. Keiner wusste mehr, was er sollte. Auch die Zwerge setzten sich maulend in den Garten. Weil alle so ratlos herumstanden und sassen und das Buffet, das die Prinzessin zur Feier hergerichtet hatte, längst leer gegessen war, ergriff sie die Initiative und küsste den Prinzen in der Hoffnung, dass er erwachte, was er auch ein bisschen tat. Doch seine Augen funkelten immer noch nur graublau und der Mund leuchtete noch immer nur halbrot und die Wangen blieben gar fahl. Die Prinzessin zuckte mit den Schultern und packte den Prinzen auf ihr Pferd. Lass uns losziehen, raunte sie über die Schultern und gab dem Ross die Sporen.
Das Pferd heulte wie der Wolf im Wald, dem gerade die sieben Geisslein schwer im Magen lagen. Das Pferd sprach, jetzt mach mal halblang, und trottete los. Die Prinzessin nickte, und freundlich wie sie war, begnügte sie sich mit dem gemächlichen Tempo. Sie strich dem Pferd über den Schopf: Ja, bring uns bitte fort von hier! Nun wieherte das Tier und machte sich pferdemässig davon, während die Zwerge siebenmal Tränchen weinten und Liedchen sangen. Das Pferd aber durchquerte Felder und Wälder, Wiesen und Rasen. Dann zogen sie durch Städte und Länder und sahen manch Wohnquartiere und Terrassenhäuser, bis die Tochter sagte: Hier wollen wir uns niederlassen. Der Prinz hob kurz den Kopf und seufzte, doch der Mietwohnungsmarkt war einfach ein Problem. Auch eine Prinzessin muss mal pragmatisch sein. Und so begnügten sie sich mit einer kleinen Bleibe auf einer kleinen Anhöhe über einer kleinen Stadt, in einem kleinen Land, ganz am Rand und fügten sich in Haus und Hof, Garten und Herd. Wobei es sich um eine Genossenschaft handelte. Als erstes bemühte sich die Tochter um die Eingliederung des Prinzen, der in ein Programm für Strassenpflege aufgenommen wurde. Cut.

Man sieht die Königstochter, wie sie im Gemeinschaftsgarten Gemüse anbaut. Rüben und Salat. Dann aber zieht ein Unheil auf, die grosse Krone grassiert. Die Menschen geraten in Angst und Schrecken und dann ist Homeofficepflicht.

So sass also die Tochter tagein, tagaus am Fenster, folgte den Nebelschwaden, dünn wie Papier und liess die Finger auf dem Rechner Zahlen addieren und Buchstaben in die Lücken füllen. Manchmal sah sie in der weiten Ferne unten, zwischen den Autos, den melancholischen Prinzen der Strassenpflege nachgehen.
Und wie sie so täglich am Fenster bei der Arbeit sass, breitete sich ein schwerer Schatten aus. Er schlich über den Garten, über die kleine Anhöhe, schliesslich legte er sich über die ganze kleine Stadt und vermieste der Tochter den Ausblick. Sie wusste, das war die Königin, die die Mutter war und noch immer nicht von ihr lassen konnte. Sie sagte zwar nichts, wie das Mütter eben so tun, die schon lange tot, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, jedenfalls blieb sie hartnäckig vorhanden. Eine Königin, die sich wie ein Schatten über alles wirft, wie ist das bloss zu ertragen. Würde es doch mal regnen, dann wäre der Schatten weg, rief die Tochter, die nun ganz Prinzessin war. Und wenn der melancholische Prinz am Abend nach der Strassenpflege wieder nach Hause kam, kraulte sie ihm den Nacken. Und Action.

Da geschah es aber, dass die Prinzessin nach dem Sex mit dem Prinzen, der unterdessen CEO der Strassenpflege geworden war, bald ein Kind gebar und auch sonst gingen die Menschen wieder der Normalität nach. Voller Glück nahm die Prinzessin den Prinzen bei der Hand, bettete das Prinzesschen in den Buggy und schob ihn auf dem kinderwagentauglichen Weg durch den Wald. Am Teich quakte nur ein Frosch und der Graureiher war auch gar nicht dort. Das Prinzesschen war entzückt von dem seltsamen Tier und die Prinzessin konnte gerade noch abwenden, dass ihr Kind einen goldenen Ball in den Weiher warf. Bitte keinen Königssohn, rief sie und ihr Mann und das Kind schauten sie verständnislos an. Der Frosch aber war verschwunden, abgetaucht in sein schlammiges Heim. Die grosse Prinzessin aber liess sich nieder auf der Parkbank am Teichrand, liess die Beine baumeln und lächelte in den Himmel. Endlich, so dachte sie, Fatum abgewendet, Märchen erledigt. Vergangenheit bewältigt. In diesem Moment aber kam ein furchtbares Unwetter auf, sieben Raben kamen kreischend geflogen und die grosse Prinzessin hatte wieder ihre Migränetabletten nicht dabei. Der kurierte Prinz, denn er hatte seine Melancholie unterdessen abgelegt dank des fortschrittlichen, städtischen Gesundheitsmanagements, der Prinz aber brachte seine grosse und seine kleine Prinzessin raschen Schrittes aus dem Wald, in dem bald ein wilder Wind tobte und Wölfe, Füchse und Dachse zum Heulen brachte. Cut.

Zuhause aber musste sich die Prinzessin hinlegen und gleich zwei Tabletten schmeissen, derart hatte die alte Königin mit Fäusten gegen ihren Schädel gepocht. Sie genas erst nach einigen Tagen. Vorsichtig setzte sie sich wieder ans Fenster und beobachtete, wie ihre kleine Prinzessin gedieh. Was war das für ein Strampeln und Wanken, Strecken und Wecken und bald schon ging ihr Kind anmutig durch die Strassen, weiss wie Schnee, schwarz wie Ebenholz und rot wie Blut. Und dieweil die kleine Prinzessin, die eben gar nicht mehr so klein sondern ziemlich lang war, unter den Rosenstauden forsch einen unbekannten Infanten kraulte, atmete die grosse Prinzessin tief durch, wehrte das Stechen im Kopf ab und warf einen Seitenblick in den Spiegel. Die Schwere fuhr ihr in die Glieder. Schon sah sie sich Schatten über den Garten werfen. Sie sah sich wachsen, monströs werden und schwere Pein auslösen. Schweigend würde sie der Tochter im Kopf sitzen. Vorausschauend kaufte sie ihr eine Packung Triptane. Dann griff sie nach der Krone und zog die Rollerblades mit den Flammen drauf an. Und Action.

Sie stürmte los, die schweren Glieder wurden einen Moment lang leicht. Sie flog übers Feld, durch die Wälder und über diese sieben Berge. Das graue Haar leuchtete schwarz, das Antlitz strahlte ebenmässig im Wind. Mit feurigen Füssen preschte sie durch den Wald auf dem kinderwagentauglichen Weg. Am Teich hielt sie keuchend inne. Als das Atemrauschen nach einer Weile verstummt war, sah sie sich um. Kein Frosch zu sehen. Keine Bewegung im Wasser. Alles still. Als wäre die Welt tot. Versteinert der Reiher im Schilf. Der lange Schnabel scharf, das Gefieder trocken. Ein Blinzeln nur. Da sah sie sich gespiegelt im Auge des Vogels. Ergraut, die Glieder schwer, die Muskeln sauer. Sie klatschte, der Reiher hob ein Bein. Einen Moment lang wollte sie ihn anschreien, du hast die Frösche getötet, du hast alles zunichte gemacht, doch dann liess sie von ihm ab. Die nächste Kröte wartete sicher schon im Erdloch. Ein paar Mal atmete sie durch. Es ist der Lauf der Zeit. Ihr Gesicht schimmerte auf dem glatten Wasser. Sie setzte sich die Krone auf und nahm Fahrt auf. Zur Tochter. Dort wird sie sich hinsetzen. Zuerst an den Tisch. Später in den Kopf. Und auch wenn sie gestorben ist, so sitzt sie dort noch immer.
No End.


Cover: Marlene König

Der Text Die Krone der Königin von Simone Ryser ist in der Ausgabe SALZ 185 Dinge aus Märchen erschienen. Gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Thomas Assinger hat SALZ Autor*innen zu Reflexionen, Erzählungen, Märchen, Nacherzählungen und einem Libretto verführt. Thomas Assinger formulierte in seiner Ausschreibung: „Nebelkappe und goldener Topf, Spieglein an der Wand und Schwefelhölzchen, Ring, Spindel, Besen, Kamm und ein Knüppel aus dem Sack – die Dinge in Märchen sind zahlreich und faszinierend. Viele von ihnen entfalten erstaunliche Handlungsmacht, haben wunderbare Merkmale und führen ein rätselhaftes Eigenleben: Sie schützen und werden zum Verhängnis, helfen und vernichten, sind gut und böse, begehrt und gefürchtet, verwunschen, verhext, ­verzaubert. Doch was passiert, wenn sich diese Dinge aufmachen und die erzählten Märchen­welten verlassen? Behalten sie ihren Charakter und wirken ihre Kräfte auch jenseits alter Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat?“

Hier finden Sie alle Informationen zu SALZ.


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