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auf jeden Fall Lektüren

Die Grenze ist niemals ein Graben

„Die Grenze ist niemals ein Graben, ein Zaun, ein Vorhang. Immer gibt es eine Naht, eine Fuge, eine Brücke.“ – schreibt Gusel Jachina in dem Stadt-Essay „Sad na granice“ („Der Garten an der Grenze“), den sie ihrer Heimatstadt Kasan widmet. Eine Lektüre von Eva Hausbacher.

Der Protagonist Jakob Iwanowitsch Bach erlebt als Schullehrer im Dorf Gnadental diese turbulente Zeit. Als stotternder Sonderling wird er gezeichnet, der die Tochter eines Großbauern vom anderen Wolga-Ufer in deutscher Sprache und Literatur unterrichtet und sich bei der gemeinsamen Lektüre von Goethe und Schiller in sie verliebt. Fortan lebt er mit ihr sehr isoliert am verlassenen Hof und beobachtet den Wandel Gnadentals von einer deutschen Gemeinschaft zu einem kommunistischen Ort nur aus der Ferne. Eines Tages trifft aber die Gewalt der Umwälzungen auch sie, seine Frau Klara wird vergewaltigt, sie stirbt bei der Geburt der Tochter Anne. Ihr Verlust ist für Bach derart traumatisch, dass er seine Sprache verliert und bis zu seinem Lebensende verstummt. In einem Interview[1] erläutert Gusel Jachina die diversen Bedeutungsdimensionen, die sie mit diesem Verstummen des Romanhelden verbindet: neben der psychologischen Ebene, die das Schweigen als Schutzstrategie vor den kommunistischen Eindringlingen einsetzt, ist es auch Ausdruck der Mentalität der Wolgadeutschen, die als Volksgruppe relativ abgesondert lebte und mit den anderen Ethnien dieser multikulturellen Region (Kirgisen, Kasachen, Nomaden, Baschkiren, Tataren und Russen) kaum Kontakt aufbaute. Bachs Stummheit steht aber auch für jene schweigende Generation, die diese schwierigen Jahre erlebt hat, ohne darüber je zu sprechen. Nach dem Tod seiner Frau widmet sich Jakob Bach hingebungsvoll der Erziehung seiner Tochter, die er – Kasper Hauser ganz ähnlich – vor allen äußeren Umständen abschottet. Er ernährt sie von den Früchten der Natur und jenen Einnahmen, die er im Tausch für die Märchen, die er über die Kultur und Traditionen der Russlanddeutschen schreibt, erhält. Die neuen Funktionäre in Gnadental machen aus diesen Texten sozialistische Aufbaugeschichten, das „sowjetische Märchen“ speist sich – so ließe sich interpretieren – aus der deutschen Märchen- und Sagenwelt. Schließlich bricht auch die Symbiose zwischen Bach und Anne auseinander, der streunende Waisenjunge Wassja stößt zu ihnen und nach einiger Zeit lässt sich die heimliche Welt, die Bach für sich und seine beiden Schützlinge gebaut hat, nicht mehr verbergen. Anne und Wassja werden in das Kinderheim Clara Zetkin gebracht, wo sie – bis zum Bruch von 1941 – gefördert und ausgebildet werden. Bachs eigener Lebenskreis schließt sich, er zieht sich in seine Flusswelt zurück und stellt sich zuletzt vor, wie er selbst zur Märchenfigur wird und wie Frau Holle die Wolga mit seinen Schneefedern bedeckt. Im Epilog wird knapp berichtet, dass er zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt und nach Kasachstan verbracht wurde, wo er bei einem Grubenunglück ums Leben kam.

Es ist ein ruhig dahinfließender Ton, den Gusel Jachina anschlägt. Bestechend ist die kinematographische Präzision in der Erzählweise, die sich auf Jachinas Studium an der Filmhochschule in Moskau zurückführen lässt. Sie wählt eine bildreiche Sprache, um von der Welt der Wolgadeutschen, ihren Sitten und Bräuchen, ihren Märchen und Mythen zu erzählen. Diese märchenhaft-phantastische Dimension des Textes wird verstärkt durch die Namen und die Archetypik der gezeichneten Figuren. Gleichzeitig ist der Roman reich an historischen Fakten, die durch Informationen in einem Anmerkungsteil ergänzt werden. Man ist versucht, Jachinas Schreibweise als magischen Realismus zu bezeichnen, die Autorin selbst lehnt diese Verortung allerdings ab. Sie will den Roman als realistische Erzählung verstanden wissen, als historischen Roman, die Märchenhaftigkeit nicht als Stilmittel, sondern als Symbol für das kommunistische Aufbaunarrativ. Historische und ethnographische Studien, ebenso wie Literatur, Filme und Malerei der wolgadeutschen Kultur haben ihr eine feste Basis für ihren Roman geboten. Allerdings lösen neben der Romantisierung, die an manchen Stellen des Textes überhandnimmt, jene Kapitel Irritationen aus, in denen Stalin als Romanfigur in Szene gesetzt wird. Insbesondere in der deutschen Übersetzung, in der aus verständlichen Gründen das im Russischen unproblematische Wort „Führer“ (russ. woschd) nicht verwendet werden kann, tut sich der Text schwer mit dieser Fiktionalisierung. Jachina lotet hier – wie sie selbst meint – jenes Denken aus, das hinter den stalinistischen Repressionen an den Wolgadeutschen stand. Ob die Parallelisierung zweier Vaterfiguren – Jakob Bach, der als liebender Vater seine Rolle bis zur Selbstaufgabe ernst nimmt, und Josef Stalin, der als „Vater der Völker“ Unheil und Gewalt bringt – im Lektüreprozess die erwünschten Gegenbilder generieren kann, sei dahingestellt. Einmal mehr setzt die Autorin aber auch hierbei jenes zentrale Ansinnen ihrer Romane um, „große“ Geschichte mit der individuellen Geschichte eines „kleinen“ Helden zu verbinden. Sie verknüpft die historische Dimension mit dem mythologischen Denken und vermischt eigentlich konträr zueinander liegende Welten miteinander. Insofern entspricht Gusel Jachinas Poetik des Fließens jener transkulturellen Dimension, die den Flusstexten eigen ist, in welchen die Funktionen von Brücke und Fluss ineinandergreifen.

Ein aktuelles Interview in russischer Sprache, das Mag. Alla Tchourlina im Rahmen der Rundfunk-Sendereihe Naschi v gorode am 22. April 2021 geführt hat, findet sich auf dem Sender der Radiofabrik Salzburg und kann unter folgendem Link nachgehört werden:

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[1] Gusel Jachina im Interview mit Christina Links, 16.11.2020, können Sie hier nachsehen.


© Aufbau Verlag

Gusel Jachina hätte am 29. April 2021 auf Einladung von prolit und dem Fachbereich Slawistik (Universität Salzburg) ihren zweiten Roman Wolgakinder im Literaturhaus Salzburg vorgestellt und ein Gespräch mit Eva Hausbacher geführt.

Der Roman Wolgakinder ist 2019 in der Übersetzung von Helmut Ettinger im Aufbau-Verlag erschienen. Hier finden Sie alle Informationen zur Autorin und zum Buch.

Bitte kaufen Sie Bücher in Ihrer lokalen Buchhandlung.


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