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von Fall zu Fall Fragen

Dann lieber die lila Großmutter eine wahre Geschichte erzählen lassen

Saša Stanišić im Gespräch über sein Buch „Herkunft“.

Saša Stanišić  im Gespräch mit Magdalena Stieb über sein Buch Herkunft
© Luchterhand Verlag

Magdalena Stieb: Der Krieg in Jugoslawien, Flucht, das Leben in einer großen Familie – all das sind Themen, um die Ihre beiden Romane „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ und „Vor dem Fest“ kreisen. Nach dem Erzählband „Fallensteller“ dreht sich auch Ihr viertes Buch „Herkunft“ – ‚Roman‘ wäre nicht die korrekte Genrebezeichung, Ihr Buch ist gar keinem Genre zugeordnet – auch wieder um diese Themen. Diesmal scheint zwischen Ihrer eigenen Biografie, dem Leben von Saša Stanišić, und der erzählten Geschichte keine Grenze mehr zu verlaufen – wie verhalten sich Fiktion und Realität, ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘ im Buch „Herkunft“ zueinander?

Saša Stanišić: Solange die Verfasser*in eines Textes dieses Spiel mit den Ereignissen und deren Literarisierung auch einiger Maßen offen betreibt, d.h. auf eine im Prozess, für die Leser*innen, einsehbare und nachvollziehbare Weise, ist, meines Erachtens, nichts gegen eine auch manchmal etwas uneindeutige Vermischung zwischen Realem und Fiktionalen zu sagen.

Im Detail wäre vielleicht darauf zu achten, dass man ein Leben, auch das eigene, nicht fiktionalisiert, nur um zu wie auch immer gearteten moralischen oder politischen Schlussfolgerungen zu kommen. Die Grenze wird für mich dort gezogen, wo nachprüfbare Tatsachen verändert werden würden, um eine bestimmte Wirkung zu erleichtern. Vielmehr sollte es darum gehen, Geschichten zu erzählen, in denen das eigene Leben an sich schon Beispiel genug ist, aus dem die Schlussfolgerungen welcher Art auch immer gezogen werden können.

Solange man also nicht „fiktionalisiert“, um ideologisch zu agieren, ist das (sichtbare) Fiktionalisieren in einem autobiografisch sich gebendem Text okay.

Dabei ist dann noch die Qualität der veränderten Fakten zu beachten: Geht es nur darum, eine Großmutter eigenartig zu beschreiben, dann kann man natürlich behaupten, sie lasse sich das Haar lila färben, ohne dass das wirklich der Fall gewesen sein muss. Wo kleinere Details erfunden werden, damit sie interessantere Details werden – das ist meines Erachtens in Ordnung.

Wenn die Wirklichkeit verändert wird, die geschichtlich über diesen persönlichen Details liegt – wenn man sich etwa die Geschichte weiter so denken soll, dass die Großmutter sich das Haar färben ließ, um im Krieg mit dem Leben davonzukommen, dann ist das vielleicht interessant als anekdotischer Einwurf, schafft aber in einem behauptet biografischen Text ein Ungleichgewicht durch die Beliebigkeit der Erfindung. Irgendwo dort, wo Menschenleben auf dem Spiel standen und stehen, irgendwo dort, wo wahre Geschichten über deren Überleben erzählen, ist für Fiktionen auch mal kein Platz. Dann lieber die lila Großmutter eine wahre Geschichte erzählen lassen.

Die Fiktion in der Biografie oder auch in einem Essay oder in der nonfiction – muss also gründlich dann hinterfragt werden dort zwischen den Polen der Erzählung und der (vielleicht) angepeilten Wirkung, wo sie relevant ist und wo sie relevant gemacht werden soll, sowie wo sie über den Text hinausstrahlt und geschichtliche Wahrheiten persönlich berührt.

Magdalena Stieb: Den Spuren und Lebensgeschichten Ihrer Familie gehen Sie in „Herkunft“ nach, die Flucht vor dem Krieg hat die Familienmitglieder an viele Orte gebracht, nach Deutschland, später auch in die USA, auch nach Salzburg, später zum Teil zurück in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Das Leben Ihrer Großmutter, der Mutter Ihres Vaters, steht dabei im Zentrum Ihres „Familienalbums“, das Ihr Buch ja auch darstellt – ausgehend von ihren Erinnerungen, die zunehmend verblassen und Lücken hinterlassen, schreibt sich die Geschichte. Wie kam es dazu, über das Leben Ihrer Großmutter zu schreiben, es als Antrieb für ein literarisches Projekt zu begreifen und dabei ein humorvolles und zugleich liebesvolles Porträt zu entwerfen?

Saša Stanišić: Die Großmutter bot sich aus mehreren Gründen als Erzählter Fokus an:

Sie war diejenige, die geblieben war. Am Ort, wo wir nicht sein durften. Višegrad. Am Ort der Spiele, der Gräuel und der naiven Kindheit und der zart beginnenden Pubertät. Sie war Zeugin des Zeitenverlaufs und Zeitenverlauf selbst.

In einer Geschichte, die das Mosaik der unsteten Herkünften und Identitäten sein sollte – war sie diejenige, über deren Herkunft und Identität (schlicht auch Biografie) mir, trotz aller emotionalen Nähe, am wenigsten bekannt war. Die uneindeutig Eindeutigste.

Sie war diejenige, die vergaß. Während ich mich die letzten Jahre hinweg erinnern wollte, mich dazu in Geschichten zwang, auch meine ganze Familie animierte, sich zu erinnern, nahm die Krankheit sie aus diesem Prozess fast vollständig heraus, und dieses „fast“ wollte ich aber unbedingt retten.

Sie war diejenige, die am meisten verloren hatte. Uns, die Familie, durch den Krieg und die daraus resultierte erzwungene Entfernung / Entfremdung. Freund*innen und Glück. Sie war allein, und ihr Leben bestand aus Vermissen aller Dinge, die mal gut waren, weil nunmehr kaum etwas gut war.

Sie war diejenige, die am Ende ihres Lebens die Bürde und das Privileg des Wissens, wo man hingehört, nicht mehr tragen konnte. Sie wusste nicht, wo ihr Zuhause ist, die Demenz hatte ein Nebel um ihre Gegenwart gelegt. Und damit war sie das Gegenpol zu meinen zahlreichen Möglichkeiten, irgendwo zu Hause zu sein und das so zu benennen, was auch immer es heißt.

Magdalena Stieb: Das Spiel mit Sprache zeichnet Ihre Bücher aus – auch der Humor, der immer wieder mit der Tragik der erzählten Schicksale Ihrer Figuren zusammentrifft, zeichnet die berührenden, schillernden Texte aus. In „Herkunft“ laden Sie die Leserin, den Leser auch zum Spiel ein, inspiriert von einem Pen-&-Paper-Rollenspiel: Im zweiten Teil des Buches entscheidet die Leserin, der Leser, was passieren wird, sie werden gewissermaßen zur Autorin, zum Autor. Interaktive Literatur, richtig? Wie geht denn Ihr Buch nun wirklich aus…?

Saša Stanišić:

  • Wenn Sie glauben, dass das Buch und so eine Herkunftserzählung überhaupt ein Ende haben kann, lesen Sie auf Seite 3 weiter.
  • Wenn Sie glauben, dass das Buch, wie alle guten Bücher, mit Drachen endet, lesen Sie auf Seite 4 weiter.
  • Wenn Sie glauben, dass das Buch mit diesem Interview weiter geht, lesen Sie das Interview noch mal.
  • Wen Sie glauben, dass die Leser*innen gute Autor*innen sind, dann vertrauen Sie ihnen – wie ich auch – jeweils ein ganz gutes Ende für sich selbst gefunden zu haben.

Saša Stanišić hätte heute, am 12. Jänner 2021, sein Buch Herkunft im Literaturhaus Salzburg präsentiert, veranstaltet vom Literaturforum Leselampe. Das Buch ist 2018 im Luchterhand Verlag erschienen.

Bitte kaufen Sie Bücher in Ihrer lokalen Buchhandlung.


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