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Blau ist ein Ort

Als sie die Fähre über den Fußweg betreten, fährt neben ihnen ein Leichenwagen in den Schiffsbauch. Ob sich hier ein Toter seinen letzten Wunsch erfüllt, fragt sie ihn, spätestens im Sterben werden doch alle Romantiker.

Auch in diesem Jahr ist zu den Rauriser Literaturtagen eine Ausgabe der Literaturzeitschrift SALZ erschienen, die Beiträge der eingeladenen Autorinnen und Autoren versammelt. Alle Informationen und die Möglichkeit zur Bestellung von SALZ finden Sie hier.

Marie Gamillscheg hat für SALZ den Text Blau ist ein Ort verfasst, den Sie hier lesen können.


Blau ist ein Ort

Als sie die Fähre über den Fußweg betreten, fährt neben ihnen ein Leichenwagen in den Schiffsbauch. Ob sich hier ein Toter seinen letzten Wunsch erfüllt, fragt sie ihn, spätestens im Sterben werden doch alle Romantiker. Sie finden einen Platz an der Seite des Decks, neben ihnen ein Knopf ALLARME UOMO A MARE, hier sind sie alleine. Das Dröhnen der Maschinen unter ihren Sitzen. Einmal lehnt sie ihren Kopf an seinen, zieht ihn schnell zurück. Oder eine Familie holt jemanden zurück nach Hause, sagt er dann, sie will den Toten am Meer wissen. Du und dein Blau, sagt sie. Sie setzen über. Wie friedlich Seefahrten für die sind, die keine Flucht kennen, keine Angst vor dem Ankommen, keine Trauer des Verlassens. Die Abendstunde am Deck löst das Versprechen ein, das sie ihr zuvor abgerungen haben: Sie dürfen in diesem Dazwischen wohnhaft werden. Es könnte der Wind sein, von dem man von Zeit zu Zeit wissen muss, dass er einem unter die Haut fahren kann oder die Erfahrung, dass es Böden gibt, die nicht fest sind, aber denen man dennoch vertrauen darf, doch diesem Moment, als das Festland als Lichterwand im Hintergrund verschwindet und die Insel noch immer nicht zu sehen ist, ist es nur das: Eine größere Anwesenheit im Dazwischen als an allen Orten, die sie zuvor besucht haben. Dabei haben sie an jedem von ihnen Kaffee getrunken und sich dafür auch hingesetzt. Sie haben die Taschen abgelegt und die Hausfassaden gefragt, die Wäsche auf den Balkonen, die Kakteen an den Straßenbegrenzungen gefragt, wer sie für einander sein wollen, doch die schwiegen zurück. Sie haben über Vögel gesprochen, die aus blauen Dingen ein Nest bauen, um das Weibchen anzulocken, blaue Blüten, blauen Plastikmüll, blauschimmernde Nüsse, bis sie dann doch ihr Handy herausholte und schweigend die Nachrichten las. Sie hatte sich das Reisen schon lange zuvor abgewöhnt. Es gelang ihr nie, die Himmel voneinander zu unterscheiden.

Sie kommen im Dunklen an. Jemand bietet ihnen ein Mietauto an, ein anderer einen Roller und eine Unterkunft, und der, der ihnen ein Auto leihen möchte, kennt auch jemanden der eine Wäscherei hat und nebenan in dem Bistro gibt guten Fisch, pranzo economico: Sie lehnen dankend ab. Sie haben eine Unterkunft. Sie wollen sich nicht bewegen, sie suchen festen Grund. Einige Männer stehen neben dem geschlossenen Ticketschalter für die Fähre und rauchen. Sie gehen die Uferpromenade entlang, vorbei an alten Steinhäusern, auf die ersten, die zu Verkauf stehen, weisen sie sich noch gegenseitig hin, überlegen, was zu tun wäre, wie man Baustoffe auf die Insel schaffen könnte. Doch als es immer mehr werden, wenden sie ihre Blicke ab. Auf der anderen Seite das Meer, das jetzt schwarz an die Küste schlägt. Der Vermieter wartet in einer der steilen Seitengassen auf sie. Sie betreten das Haus über eine Tür an der Seite, einen Pavillon aus Glas, den jetzt die Nacht auskleidet und sie folgen dem Vermieter durch die Zimmer, hier das Bad, das Schlafzimmer, die große Wohnküche, es ist unklar ob sie vor dem Vermieter oder voreinander so tun wollen, als ob sie wüssten, wie man sich in solchen Räumen lebt und mit einer Dachterrasse mit Meerblick umgeht, sie lächeln sich zu: Hier werden wir sein. Die Anweisungen des Vermieters nicken sie schnell ab, In caso di emergenza abbiamo il tuo numero. Emergenza? Der Vermieter bleibt in der Tür stehen, er mustert sie. Ob sie wissen, dass gerade Nebensaison ist? Dass die Restaurants geschlossen haben? Die Bars auch? Was sie vorhaben? Die Frau schaut aus dem Fenster und versucht dort das Meer zu erkennen. La casa è così bella, sagt sie.

Vielleicht ahnt er schon, dass sie ohne Hinterland ist. Das ist ihre Angst. Seitdem sie vor Jahren zum ersten Mal verstanden hat, dass Geschichte immer einen Erzähler hat und so schlagartig jegliche Begeisterung für historische Ausgrabungen und Bauten verschwand, ist jede Reise nur noch eine Überprüfung, ob man auch hier leben könnte, jeder neue Ort macht ihren eigenen Wohnort wahlloser, unbedeutender. Sie beneidet ihn um das Vermissen eines Straßenzugs, in dem er einmal gespielt hatte. In der Früh wacht er als erster auf. Steht leise auf, macht Kaffee, bleibt eine Weile am Fenster stehen und sieht dort jetzt das Meer, das die Nacht ihnen noch verheimlicht hat, es liegt da und wartet nicht. Sie bleibt lange verschlafen, zieht vom Bett nur auf das blaue Sofa um. Nur langsam nimmt sie ihr Gesicht in die Hand und vergewissert sich ihrer Bewegungen. Sie löste ihre Finger von den leicht geöffneten Lippen und drückt mit ihnen jetzt die Wangen flach, das Lächeln für einen Moment unbeaufsichtigt. Jetzt sind wir hier, sagt er zu ihr. Er holt eine Schüssel Wasser aus der Küche und mischt es in die Farben, er zieht immer größere Kreise in dem Blau. Sie zieht die Decke wieder über den Kopf und schließt die Augen. 

Schon bald bewegen sie sich durch das Haus, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Ganz selbstverständlich wachen sie mit Meerblick auf, trinken Espresso aus sehr kleinen Tassen und sprechen auf der Dachterrasse über die ankommenden oder vorüberfahrenden Schiffe. Schau, ein Boot, sagen sie zum Beispiel. Sie lesen immer weniger in den Nachrichten. Später reden sie über die Schiffe, die sie wiedererkennen, nach einigen Tagen diskutieren sie über Geschwindigkeiten und Motorenantriebe, über Wasserrouten und Wetterbedingungen. Sie sind immer zusammen. Selbst in den Supermarkt gehen sie gemeinsam, sie will nachher noch einen Kaffee trinken gehen, er lieber schnell zurück in den Bungalow. Tagsüber malt er, während sie weiter aus dem Fenster schaut und versucht dem Wasser die Fährzeiten abzulesen. Wenn sie aufsteht, dann bleibt sie kurz hinter ihm stehen, legt eine Hand auf seine Schulter und schaut auf das Blatt Papier, auf das er Blaus malt. Aber das Meer ist braun, es ist grau, es ist schwarz, sagt sie, es ist nie blau. Dann geht sie weiter oder sie schlafen miteinander. Sie schlafen oft miteinander. Sie fragt ihn über seine vergangenen Lieben aus, die erfüllten und die geträumten, sie will vor allem von den Enden wissen und ist erleichtert, als sie hört, dass er schon einmal Wohnungen verlassen hat, ohne sich je wieder zu melden. Interessiert dich das nicht, fragt sie ihn. Immer weniger möchte er das Haus verlassen. Er sitzt an seinen Tisch und möchte malen. Sie geht jetzt die Ecken des Bungalows ab und stellt die Messinggewichte auf die alte Apothekerwaage auf der Kommode, stellt das große Gewicht auf die eine Seite, die kleinen auf die andere, sie sortiert sie um, doch eine Seite ist immer schwerer. Schließlich verlässt sie das Haus alleine. Zum ersten Mal seit Tagen zieht sie sich eine ordentliche Hose an und schnürt ihre Schuhe zu. Sie spaziert über die Uferpromenade und grüßt die Menschen, die dort auf die Fähre warten. Es gelingt ihr gut. Sie sieht zu, wie eine Schülergruppe und Menschen mit großen Einkaufstaschen die Fähre betreten. Sie geht in mehrere Geschäfte, ohne etwas zu kaufen. Sie trinkt einen Kaffee. Was kaufen die Menschen hier ein, würde sie ihn jetzt gerne fragen. Was kaufen sie hier und wo bringen sie es hin? Sie schließt die Augen und spürt die Wärme auf ihrem Gesicht. Die Sonne ist lange angenehm, doch dann drückt sie auf einmal schwer gegen die Lider. Sie muss jetzt schnell wieder zurück. Sie lässt Geld auf dem Tisch liegen und eilt über die Promenade, die schmale Seitengasse läuft sie hoch. Er steht in der Tür, als sie kommt. Es hat begonnen, sagt er. Sie schießen.

Sie haben über Nacht vergessen die Schlafzimmertür zuzumachen. Als sie am nächsten Morgen aufwachen, ist das Meer eingezogen. Ein grelles Blau, das die Wände und die Bettwäsche färbt, sein Gesicht auf einmal kränklich blass darin. Sie trauen sich nicht, den Blick voneinander abzuwenden. Stundenlang liegen sie da und fahren mit dem Zeigefinger die Linien der Körper nach. Als sie aufstehen und ins Wohnzimmer treten, bleiben sie vor dem Fenster stehen, als entdeckten sie dort das Meer zum ersten Mal. Die Sonne fräst einen gelben Korridor in das Blau, die Wellen wiegen sich darin. Sie sind beide Fremde in diesem Haus. Sie würden wieder aufbrechen, die Handtücher dreckig liegen lassen, die Tür abschließen und mit der Fähre wegfahren. Sie sind Fremde und haben doch ein Leben hier gelebt.


Am 31. März 2022 war Marie Gamillscheg mit ihrem zweiten Roman Aufruhr der Meerestiere bei den Rauriser Literaturtagen zu Gast, die Lesung war eine Kooperation mit dem Literaturforum Leselampe. Hier können Sie die Lesung vier Wochen lang nachhören und -sehen.

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Marie Gamillscheg liest aus ihrem Roman Aufruhr der Meerestiere. Moderation: Magdalena Stieb

© Cover: Eva Möseneder
© Luchterhand Verlag

Die Literaturzeitschrift SALZ erscheint traditionell zu den Rauriser Literaturtagen, die 2022 zum Thema Von Tieren und Menschen stattfanden. Alle Informationen zu SALZ finden Sie hier.

Der Roman Aufruhr der Meerestiere von Marie Gamillscheg ist 2022 im Luchterhand Verlag erschienen. Alle Informationen zum Buch und zur Autorin finden Sie hier.

Bitte kaufen Sie Bücher in Ihrer lokalen Buchhandlung.


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