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Art poétique

oder: Wie ich aus der einzigen coolen Bar von Salzburg geschmissen wurde

Fakt ist: Chappi brachte uns, Bonzo und mich, nachdem wir nun schon einmal beide nahezu zeitgleich am Bahnhof angekommen waren, in eine Bar. Und warum denn auch nicht. Schließlich war damals, in den klar strukturierten, übersichtlichen Tagen der frühen Zwanziger (unserer, nicht jener des Jahrhunderts), jede beliebige Bar so etwas wie Bonzos und mein natürliches Habitat. Die Bar, in die Chappi uns direkt vom Bahnhof aus führte, war freilich alles andere eine beliebige. Galt sie doch als die coolste, ja, als die einzige coole in Salzburg – zumindest in gewissen Kreisen: jenen, in denen Chappi verkehrte.

Nun muss man freilich wissen, dass Chappis Kreise sich von Bonzos und meinen, trotz einer gewissen Schnittmenge, erheblich unterschieden. So hielten Bonzo und ich unsere nächtlichen Sitzungen für gewöhnlich öffentlich, in den Schaufenstern der offiziellen Gastronomie ab. Chappis Konvents jedoch fanden durchwegs in privatem, intimem, um nicht zu sagen: geheimem Rahmen statt – in Hinterzimmern, W.G.-Wohnzimmern, Kommunenkellern. Diese geradezu biedermeierliche Zurückgezogenheit gründete sich zum einen an den gesellschaftskritischen, ja, revolutionären Themen dieser Zirkel, zum anderen am Konsumverhalten der Vortragenden. Denn im Gegensatz zu Bonzo und mir, die wir die selten brennenden, oft nur schwelenden, meist sogar nur schwach wie Light-Zigaretten vor sich hin glimmenden Fragen aus unseren Studiengebieten (Pop, Poesie, Passivsport) am liebsten mit heimischem, womöglich noch unter staatlicher Beteiligung gebrautem Bier löschten, zeigte sich die Explosivität des Gesprächsstoffs, an dem sich Chappis Freunde berauschten, schon an der gewaltigen Rauchentwicklung in den Mündern derjenigen, die ihn verhandelten. Anstatt also – wie Bonzo und ich (zumindest hatte sich Chappi mehrfach in dieser Richtung geäußert) – die Ausbeutung der hiesigen Brauereiarbeiterschaft sowie die Sedierung des österreichischen Proletariats durch zwar legales, gleichwohl gesundheitsschädliches Hopfen-und-Malz-Opium auch noch zu unterstützen, durchkreuzten Chappis Freunde die verwerflichen Absichten unseres, wie sie sagten, „tyrannischen Wohlfahrtsstaates“ auf ebenso subversive wie wirkungsvolle Weise. Wie? Indem sie auf Genussmittel setzten, die illegal waren und somit nicht über staatlich kontrollierte Wege, sondern nur direkt von international, non-governmental und damit gerechter organisierter Institutionen bezogen wurden (meist handelte es sich dabei um militante, patriarchalisch strukturierte Kolchosen unter der Führung afghanischer Landlords).

Die Coolness der von Chappi gewählten Bar – selbst wir, Bonzo und ich, sahen es gleich beim Eintreten – lag also darin: alle hier rauchten. Und wenn Sie nun aufschreien, dass das Rauchen in einer Gaststätte im Jahr 2002 nichts besonders Cooles dargestellt habe, schließlich hätten damals alle in allen Gaststätten geraucht, so halte ich dagegen, dass es nicht das war, was uns in Punkto Coolness beeindruckte. Dass alle rauchten, meine ich. Aber was sie rauchten!

Ich muss gestehen: Der Anblick unzähliger in ihre Dreadlock-Mähnen, Che-Guevara-T-Shirts und imposante Rauchwolken gehüllter Undercover-Trotzkisten, Geheim-Bolschewisten-Leninisten und gut getarnter unorthodoxer Marxisten-Leninisten verfehlte seine Wirkung nicht – selbst auf Bonzo und mich, die wir doch, wenn schon an etwas, dann an die klassenlose Geselligkeit glaubten. Schüchtern nahmen wir an einem Ecktisch des mit Holzmöbeln und Hirschgeweihen und damit (aus Camouflage-Gründen?!) auf traditionell-rustikale Weise eingerichteten Etablissements Platz.

Ja, wir fühlten uns in dieser Bar, wie cool sie auch sein mochte, verloren. Chappi hingegen fand sich hier sofort zurecht. Lachend dockte sie an eine Gruppe von bleichgesichtigen Rastalockenköpfen an, die – vermuteten wir, es sagte uns ja niemand – wie sie in Salzburg Politikwissenschaften studierte (bzw. daran arbeitete, die Uni ideologisch zu unterwandern). Als Bonzo und ich gerade, aus trockenen Kehlen miteinander flüsternd, die Frage berätselten, wie man denn hier bestelle, und bei wem, und was eigentlich, durchbrach ein heiserer Schrei von der Theke her das Gemisch aus Reggae und Rede: „Freibier für alle!“

Dies war er also, der Ruf zum Abenteuer, hier kam Hollywood ins Rollen, und hier enden auch die Zweideutigkeiten, damit: die poetische Kunst. Von diesem Ereignis an also müsste ich eigentlich gar nicht mehr weitererzählen. Zu offensichtlich, zu eindeutig ist, was dann geschah, ja, was geschehen musste. Bildlich gesprochen breiteten Bonzo und ich an genau dieser Stelle, auf dieses Krähen hin, unsere Flügel aus. Um rauszufliegen. Aber was soll man machen.

Jedenfalls stand es nun also tatsächlich da, das Fass. Groß wie ein Kalb, gefüllt mit Gold, der Götze, um den Bonzo und ich nun einige Stunden lang flattern sollten. Während unser Heiligtum von Chappis Arbeiterräten, cool wie sie waren, ignoriert wurde, sprangen Bonzo und ich sofort auf, stolperten darauf zu, winkten nach Gläsern. Und es gab Gläser. Mehr als genug.

Ebenso vorhersehbar wie unsere Reaktion auch der Rest des Abends: Das Fass leerte sich, die Kehlen füllten sich, sprich: Der Nebel wurde dichter. Bonzo und ich ließen unsere Freundschaft aufleben, bekriegten uns zwischendurch aufs Garstigste und wurden am Ende dann doch wieder Freunde – wann? Nun, irgendwann lang nach Mitternacht, dann nämlich, als wir gewahr wurden, dass Chappi, die vor meinem Interesse zu beschützen Bonzo angereist war (was doch nicht nötig gewesen wäre – oder bitter nötig – so genau hatte sich das in unserem abendlangen Gespräch nicht klären lassen), sobald wir also, Nebel hin oder her, gesehen hatten, dass unsere gemeinsame (Ex-?)Freundin mittlerweile nicht nur in eine Diskussion mit dem blassen Rasta vom Nebentisch verwickelt war, sondern auch, Hals über Kopf, in dessen Locken. Und insofern handelte es sich keineswegs um einen Akt unerwünschter kultureller Aneignung, als Bonzo und ich uns hinüberbeugten, um den unerhört langen, dicken Rauchschwengel, den der Dreadgelockte achtlos auf den Tisch plumpsen gelassen hatten, an uns zu nehmen. Nein, das war ganz einfach unsere Rache, die Revanche der Unverwickelten. Mit dem geraubten Stängel aber schlichen wir, kichernd vor Triumph, in den Keller, aufs Klo.

Sie müssen bedenken, wir schreiben das Jahr 2002. Damals gab es noch keinen „Hanfshop24“, keine „Hanfkatze“, weder „WeedForYou“ noch der „Chill-o-mat“ waren uns ein Begriff – all das, was einem heute von jeder Straßenecke grellgrün entgegenblinkt, kannte man in jenen Tagen höchstens von Reiseberichten aus Amsterdam. Auch Legalisierungsdebatten wurden noch keine geführt – schon gar nicht, wie heutzutage in Deutschland, von einer Jamaica-Koalition! Nein, damals lebten wir alle, ob clean oder high, hanfmäßig im Mittelalter, hausten dort zwischen alternativlosem Aberglauben und berechtigter Angst vor der Inquisition, und aus dieser diffusen Faktenlage heraus wird auch klar, weshalb Bonzo und ich davon absahen, den von uns erbeuteten Schlegel, so wie alle anderen, gleich am Tisch abzufackeln.

Noch weniger als um die verschiedenen Graden der Legalität bzw. Legitimität wussten wir freilich um den psychedelischen Effekt, den wir zu erwarten hatten. Denn selbstverständlich galt das heute wissenschaftlich anerkannte medizinische Heil des Krautes damals noch als querdenkerische Verschwörungstheorie. Die entkrampfende, entzündungshemmende, angstlösende und gegen Übelkeit gerichtete, ja, antipsychotische Wirkung der getrockneten Blätter, deren Rauch wir da auf dem Klo der einzigen coolen Bar in ganz Salzburg in tiefen Zügen inhalierten, war Bonzo und mir schlicht nicht bewusst. Kein Wunder also, dass die Medizin bei uns nicht anschlug – genauer gesagt: ganz, ganz anders zuschlug: Erst überfiel uns ein Schüttelfrost, dann schnappten wir, die Hände an den Herzen, panisch nach Luft, am Ende begannen wir, unter hysterischem Gekicher, lauthals zu dichten.

„Flieh die Pointe, denn sie killt“, schrie ich zu Bonzo hinüber.

„Den fiesen Witz, das blöde Lachen …“, prustete dieser zurück.

„Die blaue Augen weinen machen“, johlte ich.

„Bis das Klo der Bar überquillt“, röhrte er.

Au ja, wir waren wirklich schwer in Fahrt – und damit entsprechend weit entfernt von der „leichten, ungewissen Spur“, die Verlaine der wahren Poesie zudenkt. Wo die Poesie fehlt, ist aber der Publikumserfolg nicht weit. Und so mag es kaum überraschen, dass unsere Zuhörer (tatsächlich nur Zuhörer, keine Zuhörerinnen – und wie hätte es dort, vor der einzigen Kabine des Männerklos, wo sich nur die Stehplätze der Pissoirs befanden, denn auch anders sein sollen?) auf unsere Darbietung aufmerksam wurden, ja, diese frenetisch feierten. Abgesehen vom immer wieder aufbrandenden Applaus mischte sich sogar schon bald eine weitere, heisere Stimme in unser Duett und verwandelte dieses in ein Terzett, das – wenn schon nicht stimm-, so doch auf jeden Fall stimmungsmäßig! – sowohl mit den drei Tenören als auch mit den drei jungen Tenören locker mithalten hätte können.

„Kragle sie ab …“, sang Bonzo.

„… die Eloquenz!“, ergänzte ich und fuhr gleich fort: „Und spare nicht an Energien, dem Reim die Ohren langzuziehen …“

„Nicht, dass ihr mir auf dem Klo einpennts!“, krächzte es von draußen, perfekt ins Reimschema passend, herein.

Bonzo und ich waren begeistert. Unser neuer, teils im Argot dichtender Gastvokalist schien uns witziger als sämtliche Salzburger Stiere zusammen. Prompt eröffnete er eine neue Strophe: „Was machts ihr denn so lang am Klo?“

„Musik, Musik vor allen Dingen“, japste ich zu Antwort, woraufhin es von draußen gleich weiterkrähte: „Wollts ihr nicht lieber draußen singen?“

„Wir rauchen doch … äh … aus dem Popo!“, gurgelte Bonzo, womit Höhepunkt und bisheriger Tiefpunkt des Abends zugleich erreicht waren – je nachdem, ob man es aus dem Blickwinkel der Ambiance oder des Niveaus betrachtet. Von da an – Sie ahnen es bereits – ging es freilich steil bergab, in jeglicher Hinsicht …

Mit den Exclamationes: „Was, die Musik ist nur ein Trick?!“ und „Ja, wutzl ins Kapuzl, wenn ich euch krieg!“, sprengte der dritte Mann nicht nur das Verlaine’sche Reimschema ABBA, an das er sich bislang exakt gehalten hatte, sondern auch, mit einem wuchtigen Tritt, das Schloss der Klotür, die mit einem Knall aufsprang.

Und da standen wir also, mehr entrückt als verdutzt grinsend, den geschrumpften Schlögel in der Hand.

Und da stand er: nicht ganz so breit wie das Fass, das er vorhin angezapft hatte, dafür siebenmal so hoch: der Chef der Bar.

Flugs packte er uns an den Ohren, zerrte uns aus der Kabine, die Treppe hinauf ins Gastzimmer, stellte uns dort an den Pranger, nein, vor das Bierfass, der versammelten Menge verkündend: „Dieser hier! Und dieser hier! Lokalverbot!“ Aus zugespitzten Lippen ließ er ein wiederholtes Pfeifen folgen, das wohl den Tatbestand des Rauchens symbolisierte. Daraufhin zog er uns zur Tür, trat auch diese auf und schmiss uns hinaus. Und da flogen wir dann.

Und so fliegen wir nun, Bonzo und ich, und Sie mit uns, Sie, die oder der Sie nun also doch noch erfahren haben, wie es zuging, dass ich aus der einzigen coolen Bar in ganz Salzburg geschmissen wurde. Bis heute weiß ich freilich noch nicht, ob unser Vergehen darin bestanden hatte, dass wir den Klöppel geraucht hatten, oder darin, dass wir ihn heimlich geraucht hatten, nicht wie die anderen, am Tisch – sämtliche rechtliche Fragen rund um dieses Thema lagen, wie gesagt, im Vagen.

Damit schlingt sich zu guter Letzt doch noch so etwas wie ein unbestimmter Knoten, eine unauflösliche und damit poetische Verworrenheit in diese Geschichte, die doch der Poesie so sehr entbehrte, und was danach geschah und wie ich Bonzo und Chappi später, viel später, aus den Augen verlor und ob das alles wirklich so passiert ist oder doch ganz anders, all das bleibt hier, am Ende dieser Episode, offen wie es ist, in der Schwebe. Wir alle schweben einfach aus der Bar, aus der einzigen coolen in ganz Salzburg, schweben ins Morgengrauen hinaus wie Rauchwolken oder, ja, wie ein gelungener Vers, von dem Verlaine sagt, er möge sein „wie die Sache, die davonfliegt“.

„Dein Vers sei Abenteuer pur,
Er treibe in der Morgenbrise,
Ein Duft von Thymian und Wiese …
Der Rest ist nur Literatur.“


© Literaturverlag Droschl

Andreas Unterweger liest am 19. Jänner 2023 auf Einladung des Literaturforums Leselampe im Literaturhaus Salzburg aus seinem aktuellen Roman So long, Annemarie, der 2022 im Literaturverlag Droschl erschienen ist.

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