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auf alle Fälle Texte

Anfang einer Erzählung

Ich bin keine junge Frau mehr. Vermutlich war ich schon damals nicht mehr jung, auch wenn ich mir widersprochen hätte. Manchmal beschleichen mich Zweifel, ob ich jemals eine junge Frau war. Matura, Medizinstudium, Hochzeit, die Geburt von Julian, Hauskauf, Praxiseröffnung. Einmal, auf einem Fest im physikalischen Institut, auf das mich meine Mitbewohnerin mitgenommen hatte, weil die Physikstudenten angeblich berühmt für ihre Partys waren, trank ich sieben Gin Tonic, knutschte mit einem Programmierer und übergab mich in einer dunklen Ecke. Am nächsten Morgen konnte ich mich nicht erinnern, wie ich nach Hause gekommen war. Ronja erzählte mir den Rest. Rückblickend kann ich nicht sagen, wann es passierte, ab wann ich mich nicht mehr jung fühlte. Gut möglich, dass es mit den Ereignissen in jenem Frühling zu tun hatte, als das Virus um die Welt ging. Ich kann nicht einmal sagen, ab wann ich erwachsen war. Ausgewachsen war ich schon mit sechzehn, nicht besonders groß, auch nicht so klein, dass ich darunter leiden würde. Mit zwanzig war ich volljährig, einige Jahre später wurde das Alter, in dem man die Volljährigkeit erreichte, auf achtzehn gesenkt. Ich heiratete mit dreiundzwanzig, viel zu jung. Mit achtundzwanzig wurde ich Mutter. Bald darauf glaubte ich, dass es eine gute Idee war, eine eigene Praxis zu eröffnen.

Ich bin seit bald zwanzig Jahren Kinderärztin. Ich habe viele Kinder kennengelernt, kranke und gesunde. Und es verhält sich mit Kindern nicht anders als mit Erwachsenen, sie sind sehr verschieden. Es gibt jedes Kind, das wir uns vorstellen können. Und vermutlich gibt es auch die Kinder, die wir uns nicht vorstellen können. Es macht vielleicht nicht immer den Eindruck, aber die meisten Kinder sind aufgeweckt, freundlich und hilfsbereit. Es gibt auch böse Kinder, das ist richtig, sogar einige bösartige sind mir in den Jahren begegnet, aber ihre Anzahl ist unbedeutend. In der Regel sind Kinder liebenswert. Egal, ob man sie mag oder nicht.

Es gibt Momente, in denen ich es bereue, kein Tagebuch geschrieben zu haben, auch für ein Journal war ich immer zu nachlässig, das einzige, was ich sorgfältig führte, waren die Patientendossiers.

Das Kind aber, von dem ich erzählen möchte, war kein Patient. Das Kind, das alle anderen Kinder in den Schatten stellte, war dem Kindesalter längst entwachsen, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Es war im Frühling, als zur Eindämmung der Krankheit von einem Tag auf den anderen alles zusperrte. Die Schulkinder blieben zu Hause. Die Straßen und der Himmel waren leer. Die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen. Ich war vierzig, seit zwei Jahren geschieden und Mutter eines achtjährigen Jungen. Julian und ich wohnten über der Praxis. Das Haus war ein Glücksfall. Das Dorf lag nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt. Und obwohl es im Dorf nur noch eine Schulklasse pro Jahrgang gab, hatte ich von Anfang an ein volles Wartezimmer. Der Kinderarzt im Nachbardorf war alt und nicht sehr beliebt, wenn man den Bewertungen glauben durfte. Die Eltern waren froh, dass sie nicht mehr in die Stadt fahren mussten.

Wenn ich mich richtig erinnere, war es am dritten Tag, als Julian plötzlich im Behandlungszimmer stand. Das Wartezimmer war nicht voll, aber mein Telefon klingelte pausenlos. Besorgte Eltern wollten wissen, was das Virus für ihre Kinder bedeutete. Ich hatte keine Ahnung, es dauerte noch fast einen Monat, bis ich den ersten kleinen Patienten behandelte, der an dem Virus erkrankt war. Julian wartete geduldig, bis ich den Anruf beendete. Seit sein Vater ausgezogen war, war er es gewohnt, alleine im ersten Stock zu sein. Er hatte gelernt, Dringendes, für das er mich jederzeit stören durfte, von Unwichtigem zu unterscheiden. Julian war ein rücksichtsvolles Kind. Er sprach so leise, dass ich mir, seit er in die Schule ging, Sorgen machte, ob er sich durchsetzen konnte. Ich glaubte mich verhört zu haben. Was liegt in deinem Bett? Ein Mann.


© Jung und Jung Verlag

Lorenz Langenegger liest am 19. Jänner 2023 auf Einladung des Literaturforums Leselampe im Literaturhaus Salzburg aus seinem aktuellen Roman Was man jetzt noch tun kann, der 2022 im Jung und Jung Verlag erschienen ist.

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