Kategorien
auf jeden Fall Lektüren

Das Bizarre verhilft uns dazu, die Welt zu verstehen

In der Tat werden keine Neuerscheinungen in Polen so sehr erwartet und es wird dann kein anderes Buch so schnell in die Hand genommen wie eines von Olga Tokarczuk. Somit will ich den treuen wie auch den zum ersten Mal nach einem Buch von Tokarczuk greifenden LeserInnen sagen, dass der Band „Die grünen Kinder“ ein neues Kapitel darstellt, wie auch eine Wiederentdeckung – des Bizarren.

Interpretationen

Mit dieser Neuerscheinung haben wir auch das Glück, eine neue translatorische Interpretation von Tokarczuk zu erleben. Es ist der dritte Klang ihrer Bücher in deutscher Sprache, seitdem sie nicht mehr – bedauerlicherweise – von Esther Kinsky übersetzt wird. Wenn hier auch einige übersetzerische Details überraschen, haben wir dank der Arbeit von Lothar Quinkenstein eine Stimme und eine Stimmung für Tokarczuks Sprache bekommen – und dies macht eine wertvolle Übersetzung aus. Mich überraschte allerdings der Ausgang der Erzählung Eingemachtes.

In Eingemachtes begegnen wir der typischen Erzählweise Tokarczuks – kein Wort zu viel, eine ganze Welt auf so wenigen Seiten geschildert, obwohl wir in diese Welt an einem beliebigen Tag eintreten, als die Geschichte schon ihren Lauf genommen hat, und das Ende bleibt unausgesprochen, ein Rätsel. Aber in der Übersetzung von Quinkenstein bekommt dieses Rätsel einen Umriss und eine mögliche Interpretation, die mich im Vergleich zum polnischen Original überrascht. Jetzt, in der deutschen Übersetzung, muss ich mir nämlich die Frage stellen, ob die Geschichte mit einer Rache endet. Der Ausgang ist wunderbar bizarr – aber genau deswegen soll er nicht so wörtlich, direkt, „entmetaphorisiert“ wirken. Im Gegenteil dazu wirkte das Ende im polnischen Original auf mich traurig, aber in sich ruhend. Wie wenn der Lauf der Dinge zu einem Ende kommen würde – und alles hat dann letztendlich seinen Platz gefunden. Die Stimmung dieser Geschichte vermittelt mir den Gedanken, dass die so unbeholfen und unglücklich gelebte und erlebte Bindung zwischen dem Sohn und der Mutter sich am Ende doch als die stärkste Kraft erweist.

Die Interpretation soll die Sache des Lesens und Erlebens bleiben. Ich selbst habe Olga Tokarczuk, bei einer Buchpräsentation im Jahre 2018, nach der Erzählung Passagier gefragt, und erfuhr letztendlich, dass ich mir hier zu viel ausgedacht habe, zu viel theoretisiert habe… statt einfach das Lesen zu genießen. Ob diese Erzählung ein Konzept des Bösen, gar eine Metaphysik des materiell-realen Bösen sei? Olga Tokarczuk antwortete auf ihre vorsichtige Art: „Es ist aber eine ganz einfache Geschichte. Und ich weiß, dass es heute unmodische Worte sind, aber es geht hier um etwas wie die Psyche, das Gewissen, oder – das schon ganz verworfene Wort – um die Seele“. 

Eine einfache Geschichte – über die Seele. Die Bizarren Geschichten lassen sich nicht als vereinfachende Szenarien der Zukunft lesen. Sie werden allerdings sicherlich auf diese Art literaturwissenschaftlich „untersucht“ werden. Aber was einen Text zur Literatur macht, ist diese seine tatsächlich literarische Qualität, in welcher der Text nicht programmatisch, nicht im Dienste einer – sozialpolitischen, ökonomischen, kulturellen, wissenschaftlichen – Idee entsteht. Der literarische Text ernährt sich von den Ideen, die früher oder gerade jetzt vorherrschend sind, entfernt sich aber vom Kontextuellen, Vorläufigen, wie auch vom Aufklärenden, um nicht politisch oder pädagogisch zu wirken. Auch wenn Tokarczuk manchmal in einem sozialpolitischen Kontext gelesen wird (einerseits wurde sie nach dem Buch Der Gesang der Fledermäuse zur Ikone der polnischen Tierrechte-Bewegung und andererseits erlitt sie antisemitische Reaktionen nach der Veröffentlichung der Jakobsbücher), „verteidigen sich“ ihre Texte selbst – sie sind keine Manifeste und keine Publizistik, sondern wahre literarische Kunst.  

Olga Tokarczuk erzählt in ihrem neuen Buch keine Geschichten, die vergehen werden, die man deaktualisieren könnte, sondern große, zutiefst berührende Literatur, die uns immer dazu verhelfen wird, die Welt und den Menschen zu spüren und zu begreifen.   

Malgorzata Bogaczyk-Vormayr, Salzburg und Posen


Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten von Olga Tokarczuk, aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein, ist 2020 im Kampa Verlag erschienen.


Beitrag teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert