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auf jeden Fall Lektüren

Das Bizarre verhilft uns dazu, die Welt zu verstehen

In der Tat werden keine Neuerscheinungen in Polen so sehr erwartet und es wird dann kein anderes Buch so schnell in die Hand genommen wie eines von Olga Tokarczuk. Somit will ich den treuen wie auch den zum ersten Mal nach einem Buch von Tokarczuk greifenden LeserInnen sagen, dass der Band „Die grünen Kinder“ ein neues Kapitel darstellt, wie auch eine Wiederentdeckung – des Bizarren.

Beziehungen – Unrast und Bindung

Es ist beeindruckend, wie Tokarczuk diese ihrem Schreiben so eigene, typische Verbindung von Bizarrem und Vertrautem in den Erzählungen Das Herz, Der Berg aller Heiligen und Kalender der menschlichen Feste liefert. Das Alte und das Neue: das Religiöse, das Heilige, ein Bedürfnis nach Ewigkeit, Ritualen und Lebensrhythmus – dies alles wirkt wie alte Riten, die jedoch mithilfe künftiger Medizin aufgefüllt werden. Tokarczuk sagt uns – mit einem subtilen Verständnis für menschliche Zukunfts-Phantasien wie auch für uralte Ängste – dass wir die Welt mit den Fortschritten in Medizin und Technik ins Posthumane projizieren können und doch immer inmitten menschlicher Gefühle stehen werden, unbeholfen oder stark, verwirrt und verlassen oder gefunden und getragen. Am stärksten kommt dies vielleicht in der Erzählung Der Besuch zur Sprache.

Den Besuch lese ich seit zwei Jahren in jedem Semester mit meinen polnischen Studierenden – für keine Themen interessieren sich diese jungen Menschen mehr als für das Bioingenieurswesen und speziell für humanoide Roboter, und somit sind sie zuerst entsetzt, dass ich ihnen „Belletristik“, „Fiktionen“ zu lesen gebe. Tokarczuk ist auf keinen Fall eine Science-Fiction-Autorin (allerdings überschreiten die großen Science-Fiction-AutorInnen – vielleicht wie gute SchriftstellerInnen im Allgemeinen – die Grenzen der Gattungen). Tokarczuk bewegt sich in Welten, die uns sehr weit zurück oder sehr weit nach vorne bringen, aber in denen wir uns wie im eigenen Dorf wiederfinden können und sofort wie im Spiegel erkennen.

Somit ist dieser titelgebende Besuch, zu Hause bei den modernen Wesen – Egonen – nicht deswegen so bizarr, weil man diese Egonen nicht ganz den Maschinen zuordnen kann, sondern weil sie so durchaus menschlich sind. Und eben nicht das Entmenschlichte/Maschinelle bringt ein Egoton (also eine Familie) dazu, sich nach dem Muster der Ähnlichkeit zu einer Familie zu verbinden. Dieses Bedürfnis nach Gleichheit, nach absoluter Anpassung ist ein moderner Traum der Multiplikation eines Ich bzw. der besten Kombination von Genen bzw. von Programmen. Es ist eine Fortsetzung der uralten Phantasie und einer grundmenschlichen Sehnsucht – sich sicher und akzeptiert zu fühlen, weil man in einer Umgebung lebt, die einem selbst gleicht und die man selbst konstruiert hat. Wie irreführend diese Vorstellung einer Vollkommenheit ist, zeigen die Missverständnisse, die Spannung und Zuneigung, die Einsamkeit, das Mitleid und die Irritation, wovon das Familienleben im Egoton ebenso betroffen ist wie wir selbst. Alle Geschichten aus dem Band Die grünen Kinder thematisieren Beziehungen. „Beziehung“ – als Bindung, Konstellation, oder auch als Transformation. Auch unter diesem Aspekt können wir dieses Buch lesen – und das Gesamtwerk von Tokarczuk. Die neuen Formen von Beziehungen werden nicht von der Unrast „befreit“, sondern noch mehr in Bewegung, in ständige Wandlung und Neudefinition gebracht. Aber das Verlangen, das Sehnen, die Bedürfnisse und Wünsche sind allen verständlich und bekannt. Unter ihnen scheint die Zugehörigkeit das Wichtigste zu bleiben.


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